■ Schöner leben: Wo liegt Walle?
„Das tut mir aber leid.“ Meine Bekannte Sandra schaute mich voller Anteilnahme an, als wäre ich gerade als Mitglied der Schnellen Eingreiftruppe und nach Bosnien abberufen worden. Dabei hatte ich lediglich meinen Umzug nach Walle erwähnt. Es muß ein Horror sein, vom Viertel nach Walle zu ziehen. Ich beruhigte uns, indem ich ihr versicherte, es ginge mir ganz gut damit. Eigentlich ist Walle gar nicht so weit weg vom Viertel. Ungefähr zweimal die Entfernung Goethetheater/St.-Jürgen Straße. Ich wohne nämlich im vorderen Walle.
Wirklich beunruhigt hat mich allerdings Uwe, der einzige authentische Kosmopolit, den ich kenne. Er pendelt ständig zwischen Bielefeld und Hamburg, wohnt aber in Peterswerder. Ich traf ihn am Samstag an der Sielwallkreuzung. „Scheiße! Walle liegt doch am Arsch der Welt!“ war seine Reaktion, als er vom Umzug erfuhr.
Ich weiß wirklich nicht, weswegen meine Freunde fast allergische Symptome entwickeln, sobald sie von meinem Umzug erfahren. Eigentlich gibt es da alles, was man zum Leben braucht: den Kebab um die Ecke, die italienische Eisdiele, ein Programmkino, ein kleines Theater und die regelmäßige Müllabfuhr. Zugegebenermaßen keinen Öko- aber dafür gleich zwei Roßschlachter; ein Argument, auf dam ich an dieser Stelle nicht weiter herumreiten möchte.
Einige Kopfschmerzen bereitet mir allerdings das Durchschnittsalter meiner NachbarInnen, das sich schätzungsweise zwischen 68 und 75 Jahren bewegt. Was aber andererseits zeigt, daß die Menschen hier gerne und lange leben. Sie zogen bereits vor 2000 Jahre nach Walle „trotz eines rauhen und kalten Klimas“, wie ich den „Waller Nachrichten – Umschau für Walle und Umzu“ entnehmen durfte (Ausgabe 7-8/1995, S. 16, Zeilen 23 ff.).
Nach drei Wochen beschleicht mich aber ein ungutes Gefühl: Werde ich hier etwa vereinsamen? Die BSAG sorgt zwar für nostalgische Eindrücke, (die Linien 2, 3 und 10 fahren nicht nur durch das Viertel, sondern mit einer subtilen Zeitverschiebung auch durch Walle), aber meine Freunde scheinen das alles zu ignorieren. Wahrscheinlich wegen ihrer tiefverwurzelten Viertel-Leidenschaft.
Was bleibt mir anderes übrig als an dieser Stelle einen verzweifelten Überredungsversuch hinauszuschreiben. Quasi aus dem Popo der Göttlichen Schöpfung über die Hochstraßen dieses Landes hin zu meinen Freunden. Walle ist nämlich nicht Sebaldsbrück. Das ergäbe mindestens die 20-fache Entfernung Sielwallkreuzung/Ziegenmarkt. Ein schauriger Gedanke! Luigi La Grotta
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