Wo „Paul Schäfer“ in Erfurt der Schuh drückt

■ Die 3.500 Arbeiterinnen und Arbeiter im Erfurter Schuhkombinat „Paul Schäfer“ haben Angst um ihren Arbeitsplatz Die Tagesproduktion muß halbiert werden, weil viele DDR-Bürger nur noch West-Schuhe kaufen / Die Kennziffer der Zukunft heißt D-Mark

„Wer sagt, unsere Schuhe sind nicht schön, der lügt!“ Martha O., seit mehr als 20 Jahren Arbeiterin in der Stanzerei im Erfurter Schuhkombinat „Paul Schäfer“, verteidigt „ihr“ Produkt. Daß in den Einzelhandelsgeschäften nur noch West -Schuhe gefragt sind und deshalb „Paul Schäfer“ auf seinen täglich 24.000 Paar Schuhen sitzen bleibt, glaubt sie nicht. „Wir haben sie doch letzte Woche auf dem Marktplatz verkauft, die Leute wollen unsere Schuhe.“ Martha O. ist eine von 3.500 Werktätigen des Schuhkombinats. Zum ersten Mal im Leben hat sie Angst um ihren Arbeitsplatz.

Daß die Schuhe nicht abzusetzen sind, sei eine „Ausrede“ des Großhandels“, meint auch Kurt Müller, stellvertretender Direktor der Fertigung. Der warte doch nur auf die neuen Preise nach der Währungsreform. „Wenn Sie jetzt für den Schuh 100 Mark bezahlen und ihn am 1. Juli für 50 Mark kriegen, würden Sie doch auch warten!“ Auch für ihn kamen die Absatzschwierigkeiten überraschend. Im Februar März stornierte der Großhandel die bereits fest abgeschlossenen Verträge fürs zweite Quartal 1990. Seither bleibt „Paul Schäfer“ auf den schwarzen Stiefeletten und den weißen Sandalen sitzen. Fürs zweite Halbjahr liegen noch gar keine Aufträge vor. Der Großhandel hat nichts geordert. „Die warten auf die neuen Preise“, sagt Vizechef Müller. Er versteht nicht, warum die Regierung kein grünes Licht für die Preisreform gibt. Denn noch muß das Kombinat dem Großhandel seine Waren für den staatlich festgesetzen Preis anbieten. Daß seine Schuhe im Vergleich zu den West-Waren oder gar den Importen aus Thailand viel zu teuer sind, weiß Müller.

Die 3.500 Arbeiterinnen und Arbeiter des Erfurter Schuhkombinats, dem „führenden Damenschuhhersteller der DDR“, verstehen die Welt nicht mehr. „40 Jahre waren unsere Schuhe gut genug!“ Ruth Dressler ist kurz vor der Rente, alleinstehend, wie sie sagt. Als qualifizierte Zierstepperin hat sie gut verdient und ist stolz auf ihre Arbeit. Auch ihr gefallen „ihre“ Schuhe. Doch die Billigware aus Fernost, die inzwischen von West-Händlern auf den Marktplätzen der Republik angeboten wird, findet sie ebenfalls reizvoll. „Ich würde auch zwei Paar Sandalen für 50 Mark statt ein Paar für 120 kaufen“, gibt sie zu. „Wenigstens“, so fordert sie, „muß der Handel doch beide Schuhe hinstellen, unsere und die aus Thailand.“

Bis zum Frühjahr lebten die Erfurter Schuhwerker in der Vorstellung, kein Paar Schuhe zuviel zu produzieren. Jeder Arbeiter wurde gehalten, Rentner wurden zur weiteren Mitarbeit überredet. Daß der Handel bestehende Verträge jetzt einfach storniert, war auch für die Betriebsleitung ein Schock. Inzwischen ist klar: Die Produktion muß halbiert und etwa 1.000 Arbeiter müssen entlassen werden.

„Wichtig ist Ruhe im Betrieb“

Im Büro des Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung zeigt das Kalenderblatt November 1989. Beim FDGB ist die alte Zeit stehengeblieben. Und so versucht auch Wolfgang Kliemann auf die alte Art, die Probleme zu lösen. In enger Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung zerbricht er sich deren Kopf über einen Sozialplan. „Wir sprechen mit den Leuten, die schon über 60 sind, ob sie nicht vorzeitig in Rente gehen wollen“, berichtet er. Viele wollen nicht, doch Kliemann weiß Wege: „Wenn ich einen 65jährigen frage, sollen wir dir kündigen oder deinem Sohn oder deinem Enkel, der grade die Lehre beendet hat, da wird dann mancher nachdenklich.“ Vorruhestand, Umschulung und Umbesetzung die ganze Palette westlichen Krisenmanagements zieht der BGL -Vorsitzende Wolfgang Kliemann aus der Tasche. Die enge Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung hat ihm unter den Arbeitern schon Ärger gebracht. Er ahnt, daß seine Tage gezählt sind, und fühlt sich der „flexiblen und korrupten Marktwirschaft“ nicht gewachsen. „Nach der Währungsreform wird es hier wohl auch einen Betriebsrat geben“, meint er.

Die Betriebsleitung ignoriert derweil die Lage. „Wir produzieren weiter“, sagt Kurt Müller. Er verbreitet unter den Arbeitern Optimismus. „Wichtig ist, daß sie arbeiten und daß Ruhe einkehrt“, meint er. Doch auch er geht davon aus, daß die Tagesproduktion halbiert werden muß. Die berühmten „Jesuslatschen“, Sandalen für 8 Mark 10, von denen jeder DDR -Bürger ein paar im Schrank hat, werden schon nicht mehr hergestellt. „Diese Zuschußproduktion können wir uns nicht mehr leisten.“ Für Müller sind die Entlassungen kein Problem. Allein 500 Frauen aus Vietnam und Kuba arbeiten bei „Paul Schäfer“. Die Verträge mit den Kubanerinnen laufen aus, werden nicht verlängert. Mit Vietnam gebe es „Gespräche“. Geschlossen werden soll auch ein Teil der kleinen Zulieferbetriebe aus der Umgegend. Einstellen will man auch die Zulieferung von Halbfertigprodukten aus Jugoslawien und Polen. Jetzt, wo man Marktwirtschaft sei, brauche man ja die Volksrepubliken nicht mehr unterstützen: „Das können wir uns nicht mehr leisten.“ Der 50jährige beherrscht das kapitalistische Marketing.

„In Zukunft produzieren wir für die 30- bis 50jährige Frau, die Zeit hat, das Geld ihres Mannes auszugeben.“ Chefdesigner Friedrich Jakob hat sich Gedanken über die Zukunft der Produktpalette gemacht. Mit dem, was er bisher entworfen hat, war er nie glücklich. „Wir haben aus dem Vorhandenen das Beste gemacht“, sagt er und meint damit nicht nur den Mangel an Material, sondern die Anforderungen der „Kennziffern“. „In Zukunft gibt's nur noch eine Kennziffer, und das ist die D-Mark.“ Daß er wunderschöne Schuhe machen kann, beweist Jakob am eigenen Fuß. Der schwarz-matte Lederschuh mit Gummizug und einfacher Lasche, klassisch und gut gearbeitet, könnte für 220 Mark West in jedem Laden auf dem Kurfürstendamm verkauft werden.

Das freundliche Arbeitsklima im Schukombinat „Paul Schäfer“ ist rauher geworden. Auf persönliche Fähigkeiten und Befindlichkeiten nimmt die rasche Entwicklung keine Rücksicht. 22 Jahre lang hat Rita Beck das grobe Leder für die Jesuslatschen gestanzt. Sie liebte ihren Arbeitsplatz, war zufrieden. „Ich hab das gern gemacht, kannte ja nichts anderes“, sagt sie. Jetzt wurde die 43jährige versetzt. Was für den Betrieb unumgänglich ist, Normalität und Routine im Westen, für Rita Beck ist es eine Tragödie. Das Umlernen fällt ihr schwer, und mit dem feinen Leder ist sie nicht gewohnt, umzugehen.

Die Meister und Leiter des Schuhkombinats jedoch finden die allenthalben herrschende Verunsicherung durchaus auch positiv. Der Krankenstand sei erheblich gesunken, das „Bummelantentum“ habe sich gebessert, erzählt der stellvertretenden Produktionsdirektor. Und der Meister einer Produktionsabteilung berichtet: „Wenn ich früher einem gesagt habe, mach das und das, hat der mit mir eine halbe Stunde diskutiert - jetzt macht er's ohne Widerspruch.“

Brigitte Fehrle