: Wittgensteins Schlüsselwerk
Der Philosoph als Architekt: Bauen, was der Fall ist, und ein Sonderfall der Forschung. Ein Fotoband dokumentiert das Haus, das Ludwig Wittgenstein für seine Schwester bis in Details wie Türklinken und Fensterschließer entwarf ■ Von Martin Kieren
Irgend etwas in dieser Art muß Ludwig Wittgenstein vorgeschwebt haben: Ein Haus zu entwerfen und dann tatsächlich auch bauen zu lassen, das nur noch von sich selbst handelt und davon Kunde gibt, wie rein und kristallin es sich doch denken und entsprechend eben auch leben läßt. 1926 begann er jedenfalls mit dem Loos- Schüler Paul Engelmann ein Wohnhaus für seine Schwester Margret Stonborough in Wien, in der Kundmanngasse 19, zu entwerfen – oder besser: zu denken und zu entwickeln –, das die Forderungen nach Funktionalität (im Sinne des leeren Raumes, der mit allem gefüllt werden kann) und nach Perfektion der Details auf die Spitze treibt. Mit geradezu akrobatischer mathematischer Logik wurden bei dieser Zusammenarbeit die Regeln und Theorien des sogenannten „Neuen Bauens“ entschlackt und gereinigt und in einem enormen Transformationsprozeß in Bau rückübersetzt. Das „Ergebnis Haus“ ist so ikonenhaft brut, so gleißend wahr, so gaumentrocken, daß einen fast das Grausen anfällt.
Dies Grausen schlägt aber bald in Faszination um, wenn man genau hinsieht: eine leidenschaftliche Suche nach der reinen Form, nach Wandscheibe, Loch und deren lückenloser Schließung mittels feinster Profile und Mechanismen. Jeder Raum eine perfekte Schachtel – der „Neue Kasten“ des Neuen Bauens pur. Die Schachteln in der Schachtel, das bedeutet: abgemagerte Dimensionen, perfekt sitzende kleine Winkel und Riegel als Schließmechanismen und elementare Kubaturen vom Gesamtkörper bis in die kleinste Ritze zwischen Stufe, Wand und Pilaster, zwischen Türrahmen, Parkett und Fußleiste. Der Anzug paßt so gerecht, daß darinnen nur der klare Gedanke des Philosophen Wittgenstein walten kann. Ein gebauter tractatus, eine mönchische Klause zum Schweigen bis in alle Ewigkeit. Schon das gesprochene Wort für eine annähernde Beschreibung gilt hier als überflüssige florale Zugabe: Adolf Loos als Pate, dem man es zeigt, mit dem man es sich aber auch nicht verderben will: weißgrauer Hokuspokus, perfekt vorgetragen, nobel, glatt, freihändig gewirkt ohne Netz und doppelten Boden.
Der Autor Paul Wijdeveld ist den Spuren des Hauses, vor allem aber der Entstehung und seinen angeblichen gedanklichen Ursachen mit der gleichen Akribie und dem gleichen religiösen Eifer nachgegangen, wie es die, man muß schon sagen „Schöpfer“ des Gebäudes taten, als sie sich aufmachten, den Geist der „Idee Haus“ aus der Architekturgeschichte der Moderne herauszuschälen. Wijdevelds Recherche verdanken wir nun ein Buch, das auf 240 großformatigen Seiten dieses Haus vorstellt. Der geistige Kontext ist klar: Wijdeveld versucht das Haus aus der philosophischen Grundhaltung des Philosophen abzuleiten. In letzter Konsequenz hieße dies aber: Schweigen, wo es nichts zu sagen gibt. Wittgensteins Satz in dieser Angelegenheit: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“
Die Opulenz des Ergebnisses Buch wie auch die Obsession des Autors Wijdeveld geraten aber an die Grenze des noch Sagbaren über ein Haus, das eigentlich nur ein wirklich gut gemachtes Haus ist. Die Beschreibung und die Mittel, die zu diesem Zwecke herangetragen werden, übermalen an vielen Stellen die Wirklichkeit, die Materialität des Hauses. Es verschwindet fast hinter der Gelehrsamkeit des Autors, hinter dem Material, aus dem zwar der umfangreiche Text und mithin das voluminöse Buch gebaut sind – nur eben nicht das Haus. Das Unternehmen, dieses Wittgensteinsche Haus gleichsam als Epiphanie aus dem Orkus des Verschwindens wieder auftauchen zu lassen, gleicht in seiner fast extremistischen Dramatik dem Versuch, mittels Schwelgens im Wortrausch vom dauernden Stummsein zu handeln. Die Detailfotos zum Beispiel sagen genug über sich selber aus, nämlich daß sie bis zum äußersten minimiert und fein gearbeitet sind: Sie werden aber oft – auf rührend sympathische, aber auch überflüssige Weise – nachgerade übertüncht vom allzu vielen Hinzuwissen und vom dauernden Zeigefinger, der das Ganze wieder und wieder erklären, erläutern, beschreiben und interpretieren will. Das geschieht bei den Türklinken ebenso wie bei den Vorreibern der Fensterschließmechanismen und allerlei anderem Kleinbauteil.
Dabei ist das Buch, man muß es der Gerechtigkeit halber sagen, „goldig“ im wahrsten Sinne des Wortes – eben eine wirkliche Schatztruhe, gefüllt in 20 Jahren obsessiver Forschungsarbeit. Aber man weiß ganz schnell, wovon es handelt – und blättert bald andächtig, bald verwirrt darin herum. Man liest die hybride Überinterpretation mal mit Grinsen, mal mit Kopfwiegen. Aber man spielt längst mit anderen Dingen.
Paul Wijdeveld: „Ludwig Wittgenstein, Architekt“. Wiese Verlag, Basel 1994. 240 Seiten, 300 Abb., geb., 138DM.
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