Wissenschaftler über digitales Zeitalter: "Wir sind möglichkeitsblind"
Wissenschaftler Bernhard Pörksen warnt vor dem digitalen Zeitalter und davor, wie Julian Assange zu enden. Dank Smartphone trage jeder eine Allzweckwaffe bei sich.
taz: Herr Pörksen, Sie warnen vor den Gefahren des Internets, vor Facebook und Co. Dank Smartphones trage heute jeder „eine Allzweckwaffe der Skandalisierung“ am Körper. Für die nächste Party empfehlen Sie vorsichtshalber das Zurechtlegen einer „Medienstrategie“. Ist das nicht ein wenig hysterisch?
Bernhard Pörksen: Mir geht es hier um etwas viel Grundsätzlicheres, als es die zugegeben vielleicht etwas übertrieben wirkende Rede von einer Strategie für jedermann vermuten lässt: Womit wir uns auseinandersetzten sollten, ist die Situation totaler Beobachtung.
Die Allgegenwart des Skandals. Wir sind den neuen Möglichkeiten und Kommunikationstechnologien mental nicht gewachsen. Niemand weiß, was aus seinem Twittereintrag oder aus seinem Posting bei Facebook morgen wird. Ich nenne das Möglichkeitsblindheit – wir sind blind für die mögliche Zukunft unserer digitalen Daten und Dokumente. Wir erfahren, dass uns die Kontrolle über das, was wir gesagt oder getan haben, entgleitet. Eine Situation der Enteignung, wie sie lange nur Prominente kannten.
Lege ich mir da nicht ein etwas pessimistisches Menschenbild zu, wenn ich meinen Freunden und ihren Smartphones zunächst einmal misstraue?
Das muss nicht die Konsequenz sein. Es geht eher darum, mit den neuen Medienmöglichkeiten tatsächlich in Kontakt zu treten. Diese neuen Möglichkeiten sind oft geprägt von zufälligen Wirkungsketten, nicht vom bösen Willen Einzelner, das Misstrauen verdienen würde.
43, forscht am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Diese Woche veröffentlichte er das Buch „Der entfesselte Skandal – Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“, Herbert von Halem Verlag, 19,80 Euro.
Was soll man also Ihrer Meinung nach tun? Das Internet zensieren?
Nein. Zensur ist eine veraltete Methode, das wird nicht funktionieren. Man kann sogar zeigen: Zensur mobilisiert. Kontrollverluste dieser Art erzeugen neue Kontrollverluste. Das Problem ist doch: Jeder ist heute ein Sender, ein im Extremfall global wahrgenommener Enthüllungsjournalist, und gleichzeitig wissen wir nicht, was wir tun.
Diese Erfahrung haben viele machen müssen: etwa Wikileaks-Gründer Julian Assange, Wikileaks-Informant Bradley Manning, einzelne Mitglieder der Piratenpartei. Wir müssen versuchen, uns mit den Informationstechnologien ohne Angst zu befassen, um sie kognitiv einzuholen. Der Weg der Zensur, des Misstrauens führt in die Irre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück