Wissenschaftler über digitales Zeitalter: "Wir sind möglichkeitsblind"
Wissenschaftler Bernhard Pörksen warnt vor dem digitalen Zeitalter und davor, wie Julian Assange zu enden. Dank Smartphone trage jeder eine Allzweckwaffe bei sich.
taz: Herr Pörksen, Sie warnen vor den Gefahren des Internets, vor Facebook und Co. Dank Smartphones trage heute jeder „eine Allzweckwaffe der Skandalisierung“ am Körper. Für die nächste Party empfehlen Sie vorsichtshalber das Zurechtlegen einer „Medienstrategie“. Ist das nicht ein wenig hysterisch?
Bernhard Pörksen: Mir geht es hier um etwas viel Grundsätzlicheres, als es die zugegeben vielleicht etwas übertrieben wirkende Rede von einer Strategie für jedermann vermuten lässt: Womit wir uns auseinandersetzten sollten, ist die Situation totaler Beobachtung.
Die Allgegenwart des Skandals. Wir sind den neuen Möglichkeiten und Kommunikationstechnologien mental nicht gewachsen. Niemand weiß, was aus seinem Twittereintrag oder aus seinem Posting bei Facebook morgen wird. Ich nenne das Möglichkeitsblindheit – wir sind blind für die mögliche Zukunft unserer digitalen Daten und Dokumente. Wir erfahren, dass uns die Kontrolle über das, was wir gesagt oder getan haben, entgleitet. Eine Situation der Enteignung, wie sie lange nur Prominente kannten.
Lege ich mir da nicht ein etwas pessimistisches Menschenbild zu, wenn ich meinen Freunden und ihren Smartphones zunächst einmal misstraue?
Das muss nicht die Konsequenz sein. Es geht eher darum, mit den neuen Medienmöglichkeiten tatsächlich in Kontakt zu treten. Diese neuen Möglichkeiten sind oft geprägt von zufälligen Wirkungsketten, nicht vom bösen Willen Einzelner, das Misstrauen verdienen würde.
Was soll man also Ihrer Meinung nach tun? Das Internet zensieren?
Nein. Zensur ist eine veraltete Methode, das wird nicht funktionieren. Man kann sogar zeigen: Zensur mobilisiert. Kontrollverluste dieser Art erzeugen neue Kontrollverluste. Das Problem ist doch: Jeder ist heute ein Sender, ein im Extremfall global wahrgenommener Enthüllungsjournalist, und gleichzeitig wissen wir nicht, was wir tun.
Diese Erfahrung haben viele machen müssen: etwa Wikileaks-Gründer Julian Assange, Wikileaks-Informant Bradley Manning, einzelne Mitglieder der Piratenpartei. Wir müssen versuchen, uns mit den Informationstechnologien ohne Angst zu befassen, um sie kognitiv einzuholen. Der Weg der Zensur, des Misstrauens führt in die Irre.
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