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Wirtschaft100 Milliarden Euro pro Jahr

Als Staatsanwältin hat Anne Brorhilker zum Cum-Ex-Skandal ermittelt, dem größten Steuerraub der deutschen Geschichte. Inzwischen setzt sie sich bei der Bürgerbewegung Finanzwende für ein entschiedeneres Vorgehen gegen Finanzkriminalität ein. Vergangenen Sonntag erhielt sie den Friedenspreis der Stuttgarter AnStifter. Ein Gespräch.

Anne Brorhilker beim Kontext-Gespräch im Stuttgarter Theaterhaus. Foto: Jens Volle

Von Minh Schredle (Interview)

Um besonderes Engagement für Frieden, Gerechtigkeit, Zivilcourage und Solidarität zu würdigen, verleiht der Stuttgarter Verein Die AnStifter jedes Jahr zwei Friedenspreise: Einen für Jugendliche, der in diesem Jahr an die Stuttgarter Ortsgruppe von Fridays for Future ging. Und den Hauptpreis, dotiert mit 5.000 Euro. Die Preisverleihung wird mit einer Friedensgala gefeiert, die traditionell im Stuttgarter Theaterhaus stattfindet. Hier machen sich die kommunalen Geldsorgen bemerkbar: Die gut 400 Gäste am vergangenen Sonntag werden vor Veranstaltungsbeginn per Lautsprecher-Durchsage auf eine Petition hingewiesen. Sie verfolgt das Ziel, die Kulturszene bei den drastischen Sparplänen im Stuttgarter Rathaus zu verschonen. Im städtischen Haushalt macht die Kulturförderung weniger als ein Prozent des Budgets aus.

Frau Brorhilker, in den Stuttgarter Haushaltsberatungen heißt es sinngemäß, die Stadt sei pleite, überall im Land will die öffentliche Hand sparen. Müsste die Staatskasse so leer sein?

Nein, es gibt Schätzungen, wie viel uns allein durch Steuerhinterziehung jedes Jahr verloren geht. Das sind etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr – etwa ein Fünftel des aktuellen Staatshaushalts auf Bundesebene.

Diese Schätzungen sind ja wahrscheinlich auch in der Politik nicht völlig unbekannt. Wie kommt es zum Verzicht?

Die Lösung wird oft an der falschen Stelle gesucht, nämlich auf Ebene der Gesetzgebung. Steuerhinterziehung ist aber Kriminalität, und Kriminalität bekommt man nicht allein durch Gesetze in den Griff, sondern erst durch Kontrolle. Beim Ladendiebstahl würden wir ja auch nicht auf die Idee kommen, das Problem durch ein neues Gesetz verbessern zu wollen. Um Ladendiebstahl wirklich einzudämmen oder zu bekämpfen, muss man in seinem Laden die dunklen Ecken ausleuchten. Und im Bereich Finanzkriminalität ist die Behördenlandschaft genau dafür im Moment strukturell zu schwach aufgestellt, zumindest was die großen, international agierenden Netzwerke angeht.

Warum sind die Strukturen so schwach? Ist das Absicht?

Ich würde jetzt nicht von einer konzertierten Aktion sprechen, das hat sich organisch entwickelt über lange Zeit. Die Lage hängt wahrscheinlich auch mit der ideologischen Dauerbeschallung durch die Finanzlobby zusammen: Viele politische Entscheidungsträger haben lange den Narrativen der Branche geglaubt oder tun das immer noch. Der Finanzsektor lässt sich die Lobbyarbeit im Bundestag jedes Jahr um die 40 Millionen Euro kosten, mit hunderten Lobbyisten, die nah dran sind an den Entscheidern und Skandale wie Cum-Ex verharmlosen. Die irreführende Erzählungen verbreiten wie: Das war doch nur eine kleine Gruppe schwarzer Schafe, das muss man doch nicht so aufbauschen. Und der zweite Aspekt ist, dass es immer ein sehr anstrengender Prozess ist, strukturelle Veränderungen innerhalb einer Verwaltung anzustoßen. Und deswegen ist es so verführerisch, sich die Augen zuzuhalten und zu sagen, da ist bestimmt gar nichts passiert.

Offenbar hat es Deutschland Finanzbetrügern bei Cum-Ex besonders leicht gemacht.

Auch andere Länder haben Probleme mit Cum-Ex und mit Steuerhinterziehung, das sind weltweite Phänomene. In Deutschland bereitet hier der Föderalismus Probleme. Beim Thema Finanzkriminalität können sich Zentralstaaten besser und stringenter organisieren. Nachdem der Cum-Ex-Skandal öffentlich wurde, hat zum Beispiel in Frankreich die Nationalversammlung beschlossen, okay, wir tun jetzt mehr dagegen und dann wurde die zentrale Staatsanwaltschaft für Finanzkriminalität beauftragt. Und die hat dann auf einen Schlag alle Banken durchsucht. Bei uns in Deutschland – mit diesen föderalistischen Strukturen – sind alle so ein bisschen zuständig, aber keiner so richtig. Unsere Behörden sind gut aufgestellt für lokale Delikte, wenn direkt vor Ort was passiert. Aber bei international organisierter Kriminalität gibt es oft Unklarheiten, wer zuständig ist. Bei Cum-Ex haben unter anderem Staatsanwaltschaften in Köln, Frankfurt, München und Stuttgart ermittelt – ohne genau zu wissen, was die Kollegen gerade machen.

Der Informationsaustausch untereinander wäre also ausbaufähig?

Ja, es gibt eigentlich gar keine systematische Kommunikation oder Vernetzung auf Arbeitsebene. Bei der Staatsanwaltschaft sitzen ganz viele Kollegen quer durchs Land, die sich alle nicht kennen und die auch nicht wissen, was die anderen tun. Da ist dann jeder in die eigenen Fälle vertieft, aber zum Austausch kommt es normalerweise nicht. Es gibt kein systematisches Wissensmanagement und das ist im Grunde völlig verrückt. Wenn Kollegen die Stelle wechseln oder pensioniert werden, ist häufig auch das Wissen weg.

Wie ließe sich das verbessern?

Meine Forderung ist: Wir brauchen für international organisierte Finanzkriminalität dringend eine zentrale Stelle auf Bundesebene, um dort Wissen und Kompetenz besser zu bündeln, Ermittlungsmaßnahmen besser aufeinander abzustimmen und zu koordinieren. So könnte man gerade bei gravierenden Fällen mit einer kleinen, schlagkräftigen Gruppe mehr erreichen als im föderalistischen Behördengeflecht.

Mit den Kompetenzbereichen und Zuständigkeitsbefugnissen von Staatsanwaltschaften wird nur selten Wahlkampf gemacht. Ist das Thema überhaupt schon in der Politik angekommen?

Da geht es langsam voran. Die meisten Politiker haben keinen direkten Einblick in die Verwaltungsstrukturen, denn sie sprechen maximal mit den Spitzen der Verwaltung, also dem Chef des Chefs vom Chef. Zwischen den Chef-Chef-Chefs und der operativen Ebene sind sehr viele Hierarchiestufen. Das heißt, die, die ganz oben sind, haben meistens gar keinen Einblick, wie das auf den unteren Stufen ihrer eigenen Verwaltungen läuft. Sie sprechen auch nicht mit denen unten. Und das ist ein Problem. Das zweite Problem ist, dass seitens der Verwaltungsspitzen meistens auch wenig Interesse besteht, offen zu legen, was innerhalb der Verwaltung für Schwierigkeiten bestehen. Lieber stellt man alles in einem guten Licht dar, als ob alles super läuft. Aber selbst wenn Fachminister vielleicht irgendwann bemerken: Moment mal, es läuft ja gar nicht super – woher soll dann das Wissen kommen, wo man jetzt genau ansetzen muss? In Deutschland ist es offenbar ein Ding der Unmöglichkeit, dass sich ein Minister mal direkt mit den unteren Arbeitsebenen einer Behörde trifft – obwohl diese meist direkt benennen könnten, was bei ihnen im Alltag schief läuft.

Aber formal gibt es kein gesetzlich festgeschriebenes Kommunikationsverbot, oder?

Nein, das ist eine Frage der Kultur innerhalb der Verwaltung. Wenn ein oder gar mehrere Abteilungsleiter übergangen würden, indem ein Minister direkt bei der Arbeitsebene nachfragt, würde dies als respektlos und kränkend gegenüber den übergangenen Hierarchien empfunden. Die Frage ist allerdings, was wichtiger ist: eine funktionierende Verwaltung oder gut gelaunte Hierarchien? Meiner Meinung nach muss es jetzt darum gehen, dass Dinge gut funktionieren. Wir können es uns nicht leisten, uns nicht darum zu kümmern. Dass es dem Staat massiv an Geld fehlt, schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und das ist umso bitterer, weil das Geld ja eigentlich da wäre. So untergräbt man auch das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit: Wenn man das Gefühl hat, dass der Staat mit zweierlei Maß misst, wenn nur die kleinen Sozialhilfebetrüger verfolgt werden, aber nicht die „dicken Fische“. Das senkt auch Steuermoral, wie wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen.

Wird der Rechtsstaat momentan seinem Anspruch gerecht, dass vor dem Gesetz alle gleich sein sollen?

Im Großen und Ganzen kommen Behörden gut mit den kleineren Kriminalitätsfällen zurecht. Sich mit der Täterklientel anzulegen, die sich teure Anwälte leisten kann, die fleißig Beschwerden formulieren und teils nicht vor persönlichen Angriffen zurückschrecken – das ist deutlich schwieriger. Deswegen knicken die Behörden an dieser Stelle oft ein und beenden diese Verfahren mit Einstellungen, Verständigungen und Deals. Vergleichen wir das mit dem Ladendieb: Da gibt es vielleicht eine Videoüberwachung, also eine ganz klare Beweislage und in dem Fall würde dann auch ein sehr teurer Anwalt wahrscheinlich keine Strafe mehr verhindern. Bei einer sehr reichen Klientel geht die Verteidigungsstrategie aber meistens nicht erst beim Erwischtwerden los. Da ist dann die Steuerhinterziehung schon so geschickt aufgezogen und so konspirativ durchgeführt, dass das Entdeckungsrisiko sehr gering ist. Und falls doch etwas auffliegt, begleitet der anwaltliche Rat dann die Betriebsprüfung, die dem Strafverfahren vorgelagert ist. Viel wird bereits auf dieser Ebene weggedealt, im Rahmen einer sogenannten tatsächlichen Verständigung. So kommt es vielleicht gar nicht erst zum Strafverfahren und wenn doch, geht die massive anwaltliche Gegenwehr dort nahtlos weiter. Wegen der strukturellen Probleme von Behörden kommen sie mit beschwerdemächtigen Gegnern schlecht zurecht. Der Staat muss aber in der Lage sein, das Recht gleichmäßig durchzusetzen. Das ist umso wichtiger in Zeiten, in denen radikale Kräfte gerne behaupten, dass der Staat insgesamt nicht mehr funktioniert.

Wenn jetzt überall beim Sozialen und bei der Kultur gestutzt werden soll, müsste man sich doch mit der Forderung beliebt machen können: Wir holen uns lieber das fehlende Geld und schließen diese Löcher.

Ich glaube, dass sich Politiker – wie viele andere Menschen auch – oft zu wenig auskennen mit dem Thema. Auf der einen Seite ahnen sie zumindest, dass die Verwaltungen eher schwach aufgestellt sind und die Probleme sich wegen der demografischen Entwicklung eher noch verschärfen werden. Und gleichzeitig hören sie eben von der anderen Seite permanent: Das ist alles wahnsinnig kompliziert, damit seid ihr sowieso überfordert.

Soll das heißen, in Wahrheit ist es gar nicht so kompliziert?

Die rechtliche Bewertung der Betrugsmasche ist überhaupt nicht kompliziert und mittlerweile existieren dazu ja zahlreiche Gerichtsurteile, die Cum-Ex unisono als steuerrechtlich unzulässig und strafbar bewertet haben. Nur die Umsetzung der Cum-Ex-Deals ist hochkompliziert, weswegen man sich als Ermittler erst mit dem Thema vertraut machen muss. Aber für die politische Diskussion über die Bekämpfung von Cum-Ex sind diese Details nicht relevant. Wenn wir das mal mit dem Abgasskandal vergleichen: Da haben die Medien nicht in jedem Artikel die technischen Details erklären wollen, wie genau die Betrugssoftware genau funktioniert hat.

Und zwar?

Durch illegale Praktiken haben sich Wirtschaftskriminelle wahnsinnig viel Geld erschlichen, das dem Staat und damit uns allen jetzt fehlt. Nach allem, was öffentlich bekannt ist, ist davon auszugehen, dass die Masche noch weiter läuft. Justiz- und Finanzminister könnten sich darüber hinaus auch die nicht öffentlich bekannten Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft Köln ansehen. Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Seit einem guten Jahr engagieren Sie sich beim Verein Finanzwende, der eine Gegenstimme zur Finanzlobby sein will. Haben Sie den Eindruck, dass diese Arbeit etwas bewegt?

Klar ist, dass wir nicht über die Ressourcen verfügen, über die die Finanzlobby verfügt. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sich unsere Arbeit lohnt. Zwar höre ich – auch von Journalisten – häufig, Finanzthemen und Steuern interessierten doch niemanden, das sei sperrig, zäh, einfach nicht sexy. Ich habe aber den Eindruck, durchaus auf großes Interesse aus ganz verschiedenen Milieus zu stoßen – eben weil bei einem Steuerbetrug wie Cum-Ex die Allgemeinheit so großen Schaden nimmt und das viele Menschen empört. Daneben gibt es aber auch konkrete, sachpolitische Erfolge. Etwa hat die Ampel-Regierung 2024 eine Verkürzung von Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege und Rechnungen beschlossen. Das hätte die Aufklärung von Finanzkriminalität erheblich erschwert, da Behörden ohne Unterlagen weder Steuern zurückfordern noch Täter anklagen können. Die Finanzwende gehörte daher zu den Kritikern dieser Regelung, die uns als Bürokratieabbau verkauft wurde. Wir haben eine Kampagne und eine Petition gestartet, die von über 300.000 Menschen unterschrieben wurde. Die Fehlentscheidung wurde nun – unter einer schwarz-roten Koalition – zurückgenommen. Das zeigt, dass nicht nur die Finanzlobby, sondern auch die Zivilgesellschaft eine Stimme hat.

Anne Brorhilker, 52, leitete als Oberstaatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Köln die Ermittlungen zum Cum-Ex-Steuerbetrug. Wegen Zweifeln am politischen Willen zur Aufklärung des Steuerskandals endete ihr Beamtenverhältnis auf Brorhilkers Antrag im Mai 2024. Anschließend wurde die Juristin – neben dem früheren grünen Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick – eine Geschäftsführerin bei dem Verein Bürgerbewegung Finanzwende. (min)

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