Wirkung von Antidepressiva: Wenn die Welt verschwindet
Die Verordnungszahlen von Antidepressiva steigen. Scheinmedikamente wirken oft genauso gut. Besonders umstritten: Langzeitbehandlungen.
Sie arbeitete sich aus dem Tief, machte eine Psychotherapie. Die Pillen blieben. Die Stimmungsschwankungen auch. „Ich habe das Gefühl, die Tabletten bringen nichts mehr“, sagt F., „aber ohne das Zeug wäre vielleicht alles schlimmer“.
So wie F. geht es vielen depressiven Patienten. Sie geraten in eine Krise, bemühen sich um eine Psychotherapie. Psychotherapien haben sich als wirksam erwiesen, aber die Wartezeiten können lang sein und jede Therapie endet mal. Für viele PatientInnen stellt sich die Frage: Soll ich anfangen mit den Pillen? Und wie geht es dann weiter?
„Länger als ein Jahr sollte man Antidepressiva nicht nehmen“, sagt Peter Ansari, Neurobiologe, Pharmakritiker und Mitglied im Ausschuss Psychopharmaka der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP). Die DGSP rügt die steigenden Verordnungszahlen. Die Medikamente hätten „keine spezifisch antidepressive Wirkung“, heißt es in einer Erklärung. Die DGSP plant im Januar ein Hearing zur Wirksamkeit der Pillen. An der Charité Berlin läuft derzeit eine „Absetzstudie“ zur Frage, was passiert, wenn man die Einnahme nach längerer Zeit beendet.
Der Optimismus, der vor einigen Jahren aufkam, als neue Generationen der Stimmungsaufheller auf dem Markt erschienen, ist in der Fachwelt verflogen. Trotzdem klettern die Verordnungszahlen beständig in die Höhe. Laut der Techniker Krankenkasse hat sich die Zahl der Verordnungen von Antidepressiva in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, oft verschreiben Hausärzte die Medikamente. Rein rechnerisch erhält jeder Versicherte pro Jahr 14 Tagesdosen. „Das große Problem ist, dass Hausärzte die Antidepressiva nicht kritischer sehen“, sagt Ansari.
Große Placeboeffekte
Dabei gilt in der Fachwelt als gesichert, dass ein großer Teil der positiven Effekte des Pillenschluckens allein auf dem Glauben an deren Wirksamkeit beruhen. In der Behandlungsleitlinie S3 für Depressionen, die von renommierten Experten erarbeitet wurde, räumen die AutorInnen große Placeboeffekte ein. In Therapiestudien mit einer Dauer bis zu zwölf Wochen betrage die „Response-Rate“ für Antidepressiva „meist zwischen 50 bis 60 Prozent, bei Placeboresponse-Raten von circa 25 bis 35 Prozent“, heißt es in der Leitlinie. Das würde bedeuten, dass Antidepressiva bei 60 Prozent der Betroffenen eine Besserung bewirken, Placebos aber immerhin noch bei bis zu 35 Prozent der Patienten.
Die Psychologen Jürgen Margraf und Silvia Schneider kommen in der Zeitschrift EMBO Molecular Medicine zu dem Schluss, dass neuere Studien nur noch eine Wirksamkeit von 40 Prozent bei Antidepressiva und 30 Prozent bei Scheinmedikamenten belegen. Bei leichteren Depressionen ist ein Unterschied zu Scheinmedikamenten nicht mehr nachweisbar, räumen die Autoren der S3-Leitlinie ein.
Im klinischen Alltag sehe man die „klarste Überlegenheit“ der Medikamente bei schwer Depressiven, berichtet Tom Bschor, Chefarzt für Psychiatrie an der Schlosspark-Klinik Berlin und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Psychiatrie in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.
Bschor rät zum sorgsamen Umgang mit Antidepressiva, „denn eine Sorge besteht darin, dass man nach einer längeren Verordnungszeit von den Medikamenten nicht mehr gut wegkommt“, meint er. Werden die Medikamente abgesetzt, kommt es mitunter zu unangenehmen Absetz- und „Rebound“-Effekten, etwa vorübergehenden Missempfindungen, als würde man leichte Stromschläge erleiden. Außerdem ist das Rückfallrisiko für depressive Patienten vermutlich höher, wenn sie nach längerer Zeit die Medikation beenden, sagt Bschor.
Nicht ohne Nebenwirkungen
Eine lebenslange Einnahme ist aber schon allein wegen der Nebenwirkungen problematisch. Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren, die sogenannten SSRI, gehören zur neueren Generation, dazu zählt auch Citalopram. Von den PatientInnen, die Citalopram nehmen, „haben 80 Prozent sexuelle Funktionsstörungen“, sagt Ansari. Die SSRI verstärken zudem die Wirkung von Gerinnungshemmern, die ältere Menschen oft nehmen müssen. Das Risiko für Herzrhythmusstörungen steigt. „Diese Risiken spielen bei den Verordnungen für ältere Menschen eine Rolle“, berichtet Tom Bschor.
Anstatt vorschnell in die Medikation einzusteigen, denken manche Ärzte darüber nach, wie man den Placeboeffekt nutzen könnte. Placeboeffekt bedeutet ja nicht, dass die Medikamente nicht wirken, sondern nur dass die Chemie in der Pille nicht relevant ist für deren Effekte. Die positive Erwartungshaltung, der Kontakt zum Arzt, die Substanzeinnahme haben zur Folge, dass sich viele Patienten besser fühlen, wenn ein Arzt oder eine Ärztin ihnen das Gefühl von Hoffnung vermittelt. Die Medizin in vielen Kulturen der Welt funktioniert nach diesem Prinzip: Scheinmedikament plus etwas Brimborium drum herum. „Man müsste eine Debatte darüber führen“, sagt Bschor, „ob es okay ist, sich ausschließlich Placeboeffekte zunutze zu machen“.
Viele Ärzte arbeiten schon mit Schein und Glauben, ohne das offen zu sagen. So erzählt eine niedergelassene Psychiaterin in Berlin: „Bei leichteren Depressionen empfehle ich erst mal was Pflanzliches und eine bessere Ernährung.“ Die Wirksamkeit von Johanniskraut zum Beispiel ist umstritten, aber die Pillen aus dem Drogeriemarkt geben das Gefühl, etwas zu tun gegen die Depression. Wird das eingebettet in eine Ernährung mit heißem Ingwerwasser am Morgen, Omega-3-Fettsäuren, Sport oder Meditation, entsteht bei manchen Patienten das Gefühl, sich in einer Art antidepressivem Kontinuum zu bewegen – auch ohne SSRI-Pillen. „Alles, was nicht nur auf Medikamenten beruht, ist besser“, sagt Ansari.
Ein Gefühl von Selbstwirksamkeit
Apps und Onlineprogramme, wie sie etwa die Techniker Krankenkasse offeriert, bieten Übungen an, mit denen sich destruktives Verhalten und Denken vermindern lässt. Auch Psychotherapeuten arbeiten daran, ihren Patienten ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Das ist entscheidend für den Weg aus der Depression.
Menschen in einer schweren Depression kann man allerdings nicht mit Sporttipps kommen und auch nicht allein mit einer Gesundheits-App. Für Patienten in einer schweren Depression steht die Welt still, als wäre sie tot. Diese Wahrnehmung gehört zum Krankheitsbild. Doch es gibt den Zeitfaktor. „Die schwere Phase einer Depression ist nach sechs bis acht Wochen vorbei“, sagt Ansari. Danach, in der leichteren Phase, könnte man mit einem Selbsthilfeprogramm anfangen. Theoretisch.
„Jeder muss seinen Weg finden“, sagt Siglinde F.. Sie hat eine Psychotherapie gemacht, liest Ratgeberbücher, hat sich nach Ayurveda-Prinzipien ernährt und auch schon mal der Telefonseelsorge gemailt. An eine vollständige Heilung ihrer Depressionen glaubt sie nicht mehr. „In der Selbsthilfegruppe arbeiten wir daran, die Depression auch mal akzeptieren zu können“, meint sie. Sie will die Dosis Citalopram halbieren. Versuchsweise.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist