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■ André Brie zum 90. Geburtstag Jürgen KuczynskisWir waren perfekte Selbstfesselungskünstler

Kuczynski war nie Durchschnitt. Auch Abgeklärtheit, die weisen Menschen nachgesagt wird, war und ist ihm fremd. Kuczynski ist 90, und sein Äußerungswillen ist exhibitionistisch wie eh und je. Seine anhaltende und ungewöhnliche Kreativität ist sicherlich auch auf „die von Marx so an Ricardo berühmte Gabe der Unbefangenheit“ und eine Kultur und Bildung sowie einen kommunikativen Reichtum zurückzuführen, wie sie wohl nur in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entstanden sind, in diesen Tagen werden ihm seine wissenschaftlichen und politischen Irrtümer ebenso um die Ohren gehauen werden wie seine hundertfach dokumentierte Überzeugung von realsozialistischer Überlegenheit, deren angeblich felsenfestes theoretisches und praktisches Fundament sich inzwischen als trügerischer Schwemmsand erwiesen hat.

Wer will, kann Kuczynskis Ruhmreden auf den „Analytiker“ Honecker oder zur Unumkehrbarkeit sozialistischen Vormarsches in der Welt zitieren. Es wäre nicht schwer, Kuczynski in einer solchen Weise als Apologeten realitätsfremder, schönfärberischer und theoriefeindlicher SED-Politik darzustellen. In der Abrechnung mit der DDR, in der Vollendung jenes Bildes, das die DDR eintönig schwarz und die Bundesrepublik glänzend weiß zeigt, wäre dieser Umgang mit Jürgen Kuczynski ein weiterer Schritt. Wer Kuczynski aber auf den Grund kommen will und den Realitätsverlust einer senilen DDR-Führung nicht mit dem Realitätsverlust eines bundesrepublikanischen „Weiter so“ beantworten will, wird den ganzen Kuczynski zur Kenntnis nehmen müssen und das Phänomen seiner Wirkung auf kritische Intellektuelle inner- und außerhalb der DDR. Wer dazu bereit ist, wird auf ein faszinierendes, widerspruchsvolles und durchaus folgenreiches kommunistisches und wissenschaftliches Leben stoßen.

Kuczynski behauptete von sich, es sei „etwas Richtiges“ aus ihm geworden: „nichts Großartiges – aber trotzdem Hervorragendes: nämlich einer der kleinen Hügel auf der heute so bergelosen Fläche der marxistischen Gesellschaftswissenschaften“. Diese ehedem bergreiche „Fläche“ war durch die Stalinschen Amokläufe gegen marxistische, dialektisch geschulte Intellektuelle unumkehrbar eingeebnet worden. Kuczynskis Analysen waren in der tristen Wissenschafts- und Informationslandschaft der DDR Lichtblicke. Wer sich die damaligen Bedingungen in der DDR nicht mehr vorstellen kann oder sie wie die meisten Westdeutschen kaum kennt, wird nicht mehr verstehen können, warum ein Buch wie der „Dialog mit meinem Urenkel“ eine solche, zum Teil geradezu befreiende Wirkung haben konnte. Kuczynski ragte hervor. Übrigens selbst in seiner euphorischen Honecker- und Sozialismus-Apologetik. Es müßte ein spannendes Unterfangen sein, Kuczynski verstehen zu wollen zwischen seiner Großartigkeit und den nicht seltenen Banalitäten. Da muß vieles zusammengekommen sein: eine Familiengeschichte, die ihm mehr Kultur und Emanzipation als den meisten anderen in der kommunistischen „Elite“ mitgab, die entgegengesetzt wirkende Stalinisierung der kommunistischen Bewegung, tiefe Überzeugungen und Erfahrungen eines an den Anfang dieses Jahrhunderts zurückreichenden Lebens, die politischen Umstände einer erbarmungslosen Konfrontation, die mit Holocaust, Weltkrieg und realer Drohung atomarer Vernichtung ausgetragen wurde. Auch Opportunismus und die Versuchung einer Fürsten-Erziehung werden Kuczynski bewegt oder eben gebremst haben. Unverkennbar dürfte sein, daß Kuczynski seine Beschönigung staatssozialistischer Zustände auch für einen Mantel listiger Vernunft benutzt hat, unter dem ein eigenwilliges und kritisches Denken daherkam.

Eine Gesellschaft ohne Massenarbeitslosigkeit und mit sozialer Sicherheit, die Entmachtung jener Kräfte, die zwei Weltkriege und unvergleichliche Verbrechen verursacht hatten und sich in Westdeutschland demokratisch restaurieren konnten, waren nicht nur für Kuczynski Errungenschaften, für die es sich lohnte, einen hohen politischen und gesellschaftlichen Preis zu zahlen. Der Ökonom Kuczynski verteidigte sogar die offensichtliche ökonomische Unvernunft der DDR-Preispolitik – erklärlich nur aus dem Erlebnis der sozialen Nöte und Kämpfe in den zwanziger Jahren, der gesellschaftlichen und individuellen Zerstörung durch Inflation, Arbeitslosigkeit und elementarer Not. Kuczynski hat im Gegensatz zu den in der DDR herrschenden Apologeten auf die negativen Konsequenzen aufmerksam gemacht, aber er hat ihre Auswirkungen (wie wir alle) völlig unterschätzt. Er wußte und er schrieb (und zu letzterem gehörte unter DDR-Bedingungen einiges dazu), daß die Einschränkung von Demokratie und Beteiligung „sich ... auf den wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ... negativ auswirkt“. Seine Rechtfertigung war die Wirklichkeit seines Lebens im 20. Jahrhundert. Diese Wirklichkeit empfand er als „Weltklassenkampf, der in manchem einem Krieg ähnelt, auch darin, daß die Demokratie für den einzelnen beschränkt sein muß“. Anders als die SED-Führung, für die die DDR die höchste Form der Demokratie-Entwicklung war, verwies Kuczynski oft und nachhaltig auf den Mangel an Demokratie und Emanzipation. Die Ost-West-Konfrontation, der „Weltklassenkampf“, davon war Kuczynski überzeugt, machte die Verbindung von Sozialismus, Demokratie und Libertät unmöglich, eine Verbindung, die nicht nur für das Ziel, sondern auch für den Weg lebensnotwendig gewesen wäre. Es war für ihn ein Preis, der zeitweilig gezahlt werden mußte für das entscheidende Ziel. Kuczynski wird heute – wie die meisten von uns – wissen, daß dieser Preis nicht nur zu hoch war, sondern eine wesentliche Ursache für die Zerstörung dieses Ziels selbst. Aber das war das Dilemma, das er nicht aufzulösen vermochte und das bisher auch tatsächlich nur in unüberprüften akademischen Überlegungen aufgelöst ist: Wie zu einer nichtkapitalistischen Gesellschaft gelangen, wenn der Weg dorthin das Ziel nicht nur konterkariert, sondern regelrecht zerstört?

Kuczynski trug spürbar dazu bei, daß das Klima in der DDR kritischer, Künstlerinnen und Künstler und andere Intellektuelle selbstbewußter wurden. Aber es muß ihn auch vieles gefesselt haben: die erwähnte Einschätzung eines praktisch kriegerischen Charakters der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sein Verständnis als Kommunist, Parteisoldat sein zu müssen, der selbst für Verbote, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu veröffentlichen, noch Verständnis fand und seine Herkunft aus einer politisch-philosophischen Denkschule, die bereit war, Theorie und Wissenschaft der Politik unterzuordnen. „In vielerlei Beziehung glich ich mehr einem Gläubigen als einem Wissenschaftler, ohne mir das je eingestanden zu haben.“ Was Kuczynski über sich zur Stalinzeit sagte, galt in gewisser Hinsicht für ihn und die meisten Gesellschaftswissenschaftler der DDR bis zu deren Ende. Wir waren perfekte Selbstfesselungskünstler. Ich glaube, Kuczynski und andere seines Denkens waren zu einsam, zu wenige, um aus der eigenen Gefangenschaft ausbrechen zu können. Aber die Insel Kuczynski hat überdauert. Brücken zu ihr zu schlagen ist möglich und lohnend.

Der Autor ist derzeit

Wahlkampfleiter der PDS

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