Wir sind Invasoren in der Eckkneipe. Aber sind wir nicht auch Berliner? Haben wir nicht für jeden Fehler um Entschuldigung gebeten?: Heute sind wir die Idioten
Liebling der Massen
von Uli Hannemann
Nach der Buchpremiere von Freund A. im Heimathafen ziehen wir auf der Suche nach einer die Sinne beruhigenden Kneipe noch kurz um die Ecke und geraten in diese Feuchtablage für Urneuköllner. Eine echte Eckkneipe – nur die Ecke fehlt. Ich nenne sie hier mal „Zur trüben Tasse“, um ihr Inkognito zu wahren, damit da jetzt nicht gleich wieder die ganzen Idioten hinrennen und schreien: „Das ist hier so scheiße, dass es schon wieder geil ist.“ Dominik Drutschmann im Tagesspiegel, 31. Juli 15.
Denn es ist ein Biotop. Das Weser-Eck ist im Vergleich der reinste Szeneschuppen. Und die erklärten Idioten sind heute Abend wir – man kann eine unangenehme Wahrheit noch so vehement leugnen und entgeht ihr doch nicht.
Soweit sich das durch die dichten Rauchschwaden hindurch erkennen lässt, ist das Lokal fast leer. Auf einer Seite des Tresens sitzen drei Stammgäste. Einer steht ab und zu auf und wirft unmotiviert ein paar Dartspfeile in die ungefähre Himmelsrichtung des elektronischen Dartboards. Er spielt ein Einzel mit sich selber. Sport, Meditation und Alkoholkonsum loten ihre ineinanderfließenden Grenzen aus, um sie dann vor unseren Augen spielerisch neu zu definieren.
In der Mitte des Raumes sitzt der obligatorische, einsame alte Mann, festes Zubehör eines jeden derartigen Etablissements. Ob er seine Frau umgebracht oder sie ihn nur verlassen hat, wissen wir nicht. Es geht uns auch nichts an. Jetzt sitzt er da und mustert uns stumm, als wir für unsere Gruppe zwei kleine Tische zusammenrücken wollen. Wir müssen in diesem Moment wahnsinnig sein – anders kann ich mir unseren rücksichtslosen Übergriff nicht erklären. Denn natürlich sind wir eigentlich zu kneipenerfahren, um solche groben Fehler zu begehen.
Tischeverschieben ist nicht. Da könnte ja jeder kommen. „Herrje“, sagt die alte Wirtin, die nun hinter dem Tresen hervorkommt, um die Invasion noch irgendwie aufzuhalten, und meint: Herrje, Gäste. Gäste, die nicht von hier sind. Fremde Gäste. Fremde. Unbefugte.
In der Nähe der Dartsscheibe können wir sowieso nicht sitzen. Das stört. Das wird uns bestimmt, aber nicht so unfreundlich, wie es möglich und, seien wir ehrlich, im Grunde auch angebracht wäre, klargemacht. Auch zu nah am Spielautomaten geht nicht, denn der alte Mann sieht dadurch seinen ungehinderten Zugriff auf das Gerät beeinträchtigt, das er alle halbe Stunde mal bedient. Das stört also ebenfalls.
Wir stören. Wir bringen alles komplett durcheinander: die jahrelange Ordnung, das fein austarierte und hochsensible soziale Gefüge, die Tische, die Gäste, die kunstvoll angelegten Staubfelder, die sich auf und über alles gelegt haben. Die internen Codes einer eingeschworenen Gemeinschaft werden durch böse Schwingungen und schlechte Chemie beeinflusst. Wir kommen uns vor, als wären wir in ihr Wohnzimmer eingebrochen. Ach was, ins Schlafzimmer, und hätten sie dort unter der Bettdecke begrapscht. So muss sich das im Krieg angefühlt haben, wenn fremde Soldaten ins Land einfielen.
Wir drängen uns schließlich um einen kleinen Tisch in der Ecke. Unterhalten uns flüsternd. Es soll alles so bleiben, wie es ist. Kindl und Engelhardt Charlottenburger Pilsener. Wir wollen das doch gar nicht ändern. Wir haben längst für jeden dummen Fehler, den wir gemacht haben, um Entschuldigung gebeten. Wir machen nichts kaputt. Wir sind keine Feinde. Wir kommen in Frieden.
Eines frage ich mich allerdings schon: In unserer Runde sind von sechs Leuten immerhin drei in Berlin geboren – das ist vergleichsweise viel. Zwei weitere, darunter ich, leben seit mindestens dreißig Jahren hier. Neben mir ist noch ein jahrzehntelanger Neuköllner dabei. Wir sehen auch ganz normal aus und sind im Alter zwischen Ende dreißig und Anfang fünfzig. Nur einer von uns ist wirklich zu Besuch. Was also wäre hier dann erst mal los, wenn fünf junge Amis mit Hornbrille und Dutt einfallen und laut auf Englisch nach Quittenlimonade quäken würden? Wahrscheinlich würde dann alles auf der Stelle in Flammen aufgehen, die Wirtin zuerst, ein grässlich kreischender Feuerball, wie so ein Vampir, der zu lang in der Sonne war. Hoffentlich wird das nie passieren.
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