piwik no script img

■ Wir lassen lesenWirkliche Sportsmänner

„Das Stadion ist wie eine wundersame Beschwörung aufgetaucht, als hätte eine unabwendbare Kraft es aus dem Innern der Erde selbst siegreich emporsteigen lassen.“ Mit solch markigen Worten feierte Dr. Ral Jude, der Präsident des uruguayischen Fußballverbandes, am 18. Juli 1930 die Einweihung des Stadions „Centenario“ in Montevideo, Schauplatz der ersten Fußballweltmeisterschaft. Eine umstrittene WM, war doch die Spitze des europäischen Fußballs zu Hause geblieben, teils aus purem Dünkel wie die Engländer, teils, angesichts der langen Schiffsreise, aus finanziellen und beruflichen Gründen, teils, weil sie dem neuartigen Spektakel nicht so recht über den Weg trauten. Nur die Teams aus Frankreich, Belgien, Rumänien und Jugoslawien hatten sich aufgemacht, in den anderen, schon damals großen Fußballnationen wurde geschmollt und, wie in der deutschen Presse, abfällig von einer „panamerikanischen Meisterschaft“ gesprochen.

Für die Fifa unter ihrem Präsidenten Jules Rimet war die Veranstaltung jedoch ein gewaltiger Erfolg. Ihr Vorhaben, alle vier Jahre eine Weltmeisterschaft zu veranstalten, war nach dem Fußballfest von Montevideo nicht mehr aufzuhalten. Nachzulesen ist die Geschichte dieser WM in einem hochinteressanten Buch des Agon-Sportverlages, das den Bericht des uruguayischen Veranstalters nebst vielen Statistiken, Pressestimmen und Fotografien enthält. Jedes Match wird genau beschrieben und kurz analysiert, wie etwa das 3:0 der US- Amerikaner, die erst im Halbfinale mit 1:6 gegen Argentinien ausschieden, im Gruppenspiel gegen Belgien, dessen knappes Resümee folgendermaßen ausfällt: „Die Überlegenheit des Teams aus den Vereinigten Staaten war während der gesamten Partie offensichtlich. Weitgehend beherrschten sie das Spielgeschehen, während die Belgier den Eindruck hinterließen, desorientiert zu spielen.“ Die Statistiken verraten, daß das Interesse im Veranstalterland keineswegs während des ganzen Turniers so groß war wie bei den Spielen der Gastgeber und des benachbarten Argentinien, wo 80.000 bis 90.000 Zuschauer kamen. Beim 4:0 Brasiliens gegen Peru etwa verloren sich im gigantischen Centenario gerade mal 1.200 Menschen, zum Vorrundenspiel zwischen Rumänien und Peru (3:1) im Vorort Pocitos kamen lediglich 300 Leute.

Das Finale zwischen Argentinien und Uruguay im voll besetzten Centenario stellte dafür alles bisher Dagewesene in den Schatten. „Die bewegendste Begegnung, bei der ich jemals zugesehen habe“, urteilte der peruanische Mannschaftskapitän, und der Bericht des Veranstalters feiert das Match natürlich in höchsten Tönen, schließlich gewann Uruguay mit 4:2. Dezent verschwiegen werden gewisse „unangenehme Erfahrungen“, Zwistigkeiten zwischen Argentiniern und Uruguayern, die im neidischen Europa mächtig aufgebauscht wurden, dafür wird ausführlich geschildert, wie sich vor der Partie „die ehrenhaften argentinischen Repräsentanten“ mit den uruguayischen Spielern vor der „Tribüne Olympia“ trafen und gemeinsam „skandierten, wie es sich für wirkliche Sportsmänner geziemt“.

Noch im sachlichen Bericht über das Finale schwingt die Angst mit, die Uruguays Fußballfans ausgestanden hatten, als es plötzlich 2:1 für Argentinien stand. Vorbei war es mit der „angenehmen Stimmung“ nach dem Führungstreffer der Gastgeber, „die die Gesichter strahlen und die Herzen schneller schlagen ließ“. Statt dessen: „Über dem gesamten Stadion wehte ein Wind der Angst, und jede Hoffnung verflog.“ Der Ausgleich in der 57. Minute änderte alles und belebte die „ohnmächtigen Hoffnungen“ der Zuschauer. Der prachtvolle 20-Meter-Schuß von Iriarte zum 3:2 schließlich rief in der 68. Minute „bei den Argentiniern Betäubung“ hervor, und als Castro eine Minute vor Schluß per Kopf zum 4:2 traf, war der allseits erwartete Triumph der Olympiasieger von 1924 und 1928 perfekt. Pflichtschuldigst wurde er auch dorthin gemeldet, wo Ral Jude zufolge ja das ganze Stadion hergekommen war: „Über den Äther wurde selbst bis ins Innerste der Erde verkündet, daß die Uruguayer den Weltmeistertitel errungen hatten.“ Matti Lieske

R. Keifu (Hrsg.): „I. Fußball- Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay“. Agon-Sportverlag, Kassel 1993, ISBN 3-928562-15-0

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen