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„Wir halten uns an die Gesetze“

■ Die sicheren Arbeitsplätze halten die Müllmänner in Berlin-Ruhleben bei der Stange

Arno Witt schiebt den schwarzen Schaltknüppel in der Armlehne um Millimeter nach vorne, zieht ihn behutsam zurück, während die andere Hand einen Hebel rührt. Ein Krahn rast in die Mitte des 80 Meter langen Bunkers. Greifarme schweben durch eine Staubwolke, plumpsen weich in den bunten Haufen, krallen sich fest, gleiten mit rieselnder Fracht über die vier Stockwerk hohe Mauer und entladen sich in einem Loch, neben dem eine Lampe blinkt. „Wenn das Signal an ist, braucht der Kessel Nachschub“, erklärt Arno Witt. Seit 22 Jahren arbeitet er in dem toilettenzellengroßen Glaskasten der Müllverbrennungsanlage in Berlin-Ruhleben. Hat er sich zwischen Blechspinten hindurch zu seinem Schaltpultsessel vorgearbeitet, spricht er oft für Stunden mit niemandem. „Kranfahren macht mir Spaß“ — für Bruchteile von Sekunden blitzen seine Augen hinter den dicken Brillengläsern auf.

Bis vor zwei Jahren hat er im Wechselschichtdienst gearbeitet: von 6 bis 14, von 14 bis 22 und von 22 bis 6 Uhr — die Kessel werden rund um die Uhr befeuert. „Das hat ihn kaputt gemacht, wie viele hier“, sagt Schichtleiter Heinz Günter Himmler. Mehrere Kollegen hätten mit Schlafstörungen zu kämpfen; Kreislauf-, Stoffwechsel- und Blutdruckerkrankungen seien häufig Folge des ständigen Wechsels. „Wir wollen, daß die Lebensarbeitszeit für uns herabgesetzt wird, damit wir noch was von der Rente haben“, versucht der Ingenieur im Blaumann seinen Kollegen in der Krahnkanzel zu agitieren. Mehrere Männer aus dem Betrieb seien in den letzten Jahren mit Ende 50 gestorben. „Das macht Angst“, murmelt der 56jährige und setzt dann dezidiert nach: „Beamte und Oberfeldwebel können ja auch mit 59 nach Hause gehen. Warum wir nicht?“ Ein Jahr früher in Rente für fünf Wechselschichtjahre erscheinen ihm angemessen. „Aber die da oben bewegen sich ja gar nicht. Im Gegenteil, Kohl und so wollen ja die Arbeitszeiten wieder verlängern.“

Die ÖTV beschränkt ihre Forderungen im Arbeitskampf fast ausschließlich auf die Lohnfrage; die Lebensarbeitszeit hingegen ist kein Thema. Ob Arno Witt mitstreikt, wenn die ÖTV dazu aufruft? „Kann schon sein.“ 3.000 D-Mark nimmt er am Monatsende mit nach Hause — die Wechselschichtzuschläge fehlen in der Haushaltskasse. Himmler gibt sich kämpferischer: „Wir hier in Berlin sind ja durch den Wegfall der Berlinförderung eh gebeutelt. 5,4 Prozent sind das absolute Minimum, was drauf muß“, meint der ehemalige Betriebsrat. Wenn die Gewerkschaft aufrufe, werde er schon mitmachen. Aber ein wilder Streik komme nicht in Frage. „Wir halten uns an die Gesetze!“ Dieser Satz kommt ihm fast inflationär oft über die Lippen; meist zielt er darauf ab, mögliche Zweifel an Arbeitsbedingungen und Schadstoffemissionen zu zerstreuen. Arno Witt zum Beispiel werde durch eine eigene Klimaanlage von den Ausdünstungen des Mülls geschützt; tatsächlich dringt hier kein Abfallgestank herein, in dem die Männer am Rolltor arbeiten müssen. Und auch von der stickig-heißen Luft in der Nähe der Kessel und Dampfleitungen ist in der Krankanzel nichts zu spüren.

Nicht nur die sicheren Arbeitsplätze halten die Männer in der Müllentsorgung bei der Stange. Für mehrfache Väter rechnet sich die Anstellung im öffentlichen Dienst auch. „Aber neue Leute zu finden, besonders für die Posten mit höherer Ausbildung, ist nicht einfach“, sagt Werksleiter Winfried Gürgen. Vor kurzem habe ihm ein gestandener Mann aus der sogenannten freien Wirtschaft bei einem Vorstellungsgespräch freundschaftlich auf die Schulter geklopft und gemeint, bei dem Lohn bliebe er lieber zu Hause und lebe von seinem Arbeitslosengeld. Annette Jensen, Berlin

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