piwik no script img

Wir haben keinen Gegner

Wer war Rudi Dutschke? Ist das heute noch eine Frage für mich? Mit 16 war ich fasziniert von der 68er-Revolte; angeregt durch meinen Vater, hörte ich Beatles, las Bücher über das Leben und die Ideale Rudi Dutschkes, wobei ich zweiteres nicht so ganz verstand, aber ich war bewegt von den Erzählungen meines Vaters. Inzwischen habe ich es satt, immer wieder mit der 68er-Generation verglichen zu werden und mich als Kind einer narzißtisch – konsumverwöhnten – unpolitischen Generation beschimpfen zu lassen. Ihr überseht, daß Eure Probleme von damals nicht mehr die unsrigen und deshalb auch unsere Träume andere sind. [...]

Ich weiß nicht, woher dieses widersprüchliche Lebensgefühl kommt, mit dem, glaube ich, heute viele Jugendliche leben. Aber man kann es nicht einfach abtun und in die Kategorie „unpolitisch“ stecken. Ich glaube, wir sind geprägt von der Freiheit und dem Überfluß an materiellen Gütern, in denen wir aufgewachsen sind im Angesicht von Umweltzerstörung, sich verschärfender Sozialproblematik, Krieg, Tschernobyl, im privaten materielle Zufriedenheit, Bedürfniserfüllung, Freiheit: Welche Jugendlichen durften soviel ausprobieren und ausleben: ihre Sexualität, die Lebensform, Drogen etc.? Und gleichzeitig: Welche Jugendlichen waren so überfordert von den Problemen ihrer Zeit, die das ganze Leben im Sinn anzweifeln und die Jugendlichen verzweifeln ließen?

Während die achtziger Jahre eher im Zeichen der Nullbockeinstellung standen, befinden wir uns jetzt in einer Zeit eines neuen Umbruchs. Doch wir haben nicht das Glück, im Protest gegen die Eltern einen Halt zu finden, im Anklagen Stärke und in einem anderen politischen System eine Zukunft zu sehen. Wir haben keinen Gegner, und deshalb sind wir so hilflos in unserem Formulieren eigener Ideen. Doch uns schweißt etwas zusammen, das Gefühl, auf der Suche nach Liebe und individuellem Glück zu sein, wir wollen nicht Karriere machen, wir möchten einen Beruf, der uns erfüllt, uns selbstverwirklichen, wir wollen Liebe und Partnerschaft, wir wollen wieder Familie, weil wir Geborgenheit und Rückhalt in dieser Welt der Entscheidungsmöglichkeiten und Unsicherheiten brauchen. Das nennt Ihr dann reaktionär.

[...] Wir fühlen uns bedroht von Arbeitslosigkeit, Zunahme von Gewalt und Armut, von Kriegen und Umweltzerstörung, auch jetzt persönlich: Studienplatz? den ich mir wünsche, vielleicht erst in drei Jahren – Arbeitslosigkeit? Nicht mehr so undenkbar – Wohnung? ein Problem – Leben? Vielleicht morgen im Super-GAU.

Irgendwie sind wir eine ruhige Generation, nicht explosiv, in keinster Weise radikal, weil wir keinen Druck spüren, keine Gewalt von außen, die uns hindert, so zu leben, wie wir wollen. Nein, besser gesagt, keine personelle Gewalt, sondern eine übermächtige, strukturelle Gewalt, die so subtil ist, daß sie sich schwer beschreiben oder festmachen und noch schwerer bekämpfen läßt.

Gleichzeitig zeichnet uns eine große Emotionalität aus. Wir halten keine intellektuellen Diskussionen ab, keine philosophischen Diskurse, keine politischen Dispute, weil wir einfach mehr unserem Gefühl vertrauen. So sind auch unsere Ziele, für die wir eher unorganisiert kämpfen, aus persönlicher Angst und einfachem Gerechtigkeitssinn gespeist, ohne ideologischen Über-, Unter-, Hinterbau.

Ich glaube nicht, daß wir alle resigniert haben angesichts der Übermacht der Probleme, sondern daß wir etwas verändern können, denn wir haben in unserer Freiheit und Individualität Kreativität entwickelt und Werte entdeckt, die wir dieser Gesellschaft entgegensetzen. Die materielle Zufriedenheit hat unsere Sehnsucht nach Liebe nicht gestillt und unsere Angst vor dem Tod nicht gelöst. Nein, wir rebellieren nicht, wir schockieren nicht, wir lassen nicht die Hosen vorm Gericht runter – warum stört Euch das so? Hört endlich auf, Euch in uns zu suchen, sondern seht, was wir zu sagen haben. Wir kämpfen nicht für Eure, sondern für unsere Träume. Silke Göttmann

P.S. Dieser Brief entstand vor der Zeit, als Menschen in Deutschland verbrannt wurden. Jetzt zwingt die Situation zum Handeln und wird hoffentlich auch unsere Generation zum Aufstand bewegen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen