: „Wir haben durchgelüftet“
Die Amtszeit Kretschmann geht ins zwölfte Jahr, Baden-Württembergs Grüne haben viel erreicht und große Erwartungen enttäuscht, auch weil sie Stuttgart 21 nicht aufhalten konnten. Jetzt müssen vor allem in der Energiepolitik die Weichen gestellt werden. Währenddessen wird die CDU widerspenstiger.
Von Johanna Henkel-Waidhofer↓
An Lippenbekenntnissen herrschtin der CDU kein Mangel. Natürlich stehen Fraktionschef Manuel Hagel oder Wohnministerin Nicole Razavi, Generalsekretärin Isabell Huber und erst recht Innenminister Thomas Strobl zu den vielen landespolitischen Plänen, die ihnen die Grünen zwecks Fortsetzung der gemeinsamen Landesregierung abgerungen haben. Es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, denn der Koalitionsvertrag ist unmissverständlich bis ins Detail. Fix vereinbart ist darin, Lehrkräftestellen vorrangig an Brennpunktschulen zu verteilen, ein Antidiskriminierungsgesetz zu verabschieden, die Kennzeichnungspflicht von Polizeikräften bei Großeinsätzen einzuführen, das Landtagswahlrecht endlich zu reformieren und mindestens zwei Prozent der Landesfläche von knapp 36.000 Quadratkilometern für Windenergie und Photovoltaik zur Verfügung zu stellen.
Wie es um die Loyalität der CDU gegenüber den Grünen bestellt ist, lässt sich seit Langem gut ablesen am Agieren von Peter Hauk, Minister für Ernährung, ländlichen Raum und Verbraucherschutz, wie sein Haus offiziell heißt. Der gelernte Forstwirt ist direkter Nachbar von Thekla Walker, der Grünen-Ministerin für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft am Stuttgarter Kernerplatz. Gern arbeitet er Gegensätze heraus, die wirken sollen als Sand im Getriebe. Bald nach dem Start in die erste gemeinsame Legislaturperiode 2016 fing er sich von Winfried Kretschmann einen der seltenen Rüffel des Ministerpräsidenten ein, weil er austestete, ob die beschlossene 700-Meter-Abstandsregel zwischen Windrädern und Wohngebäuden nicht doch auf tausend Meter hochgeschraubt werden könnte.
Hauk machte fünf Jahre lang kein Hehl aus seiner Haltung, dass er den von den Grünen vorangetriebenen Ausbau der Windkraft für utopisch hält. Den Beschluss zum Mindestflächen-Ziel 2021 musste er dann aber doch mittragen. Jetzt könnte er ihn mit breiter Brust und 30 Jahren Erfahrung im Landtag erläutern. Der frühere CDU-Landtagsfraktionschef, der so gern selber in die Villa Reitzenstein eingezogen wäre, denkt aber gar nicht daran. Unter den 13 Flächen im Staatswald, auf denen seiner Meinung nach neue Anlagen zügig entstehen könnten, ist überhaupt nur eine einzige, 70 Hektar in Bad Waldsee, unproblematisch. Überall sonst sind Restriktionen längst aktenkundig. So ist beispielsweise nur schwer vorstellbar, dass in der Nähe von Schloss Lichtenstein, dem Märchenschloss der Württemberger, Windräder für den so dringend gebrauchten Strom sorgen dürfen, denn Belange des Denkmalschutzes stehen dagegen. Dennoch hat Hauk nahe Flächen vorgeschlagen. Und zu allem Überfluss bringt er seit Anfang März anhaltend auch noch das Thema Lebensmittelversorgung gegen die Energiewende in Stellung – obwohl Deutschland auch in diesem Sektor Exportland ist. Er nutze den Krieg in der Ukraine, „um überholte Vorstellungen wieder salonfähig zu machen“, wirft ihm der SPD-Abgeordnete Jonas Weber dieser Tage im Landtag vor. Und Walker warnt den Kabinettskollegen, ohne seinen Namen zu nennen, die Diskussionen von vorgestern wieder aufzunehmen.
Mit der SPD lief es so mittelgut
Vorgestern ist in Baden-Württemberg in vielfacher Hinsicht vorbei seit diesem historischen Wahlabend Ende März 2011. Die Grünen ließen mit 24 und damit einem Prozent Vorsprung die SPD hinter sich, Ministerpräsident Stefan Mappus verzichtete trotz der stolzen 39 Prozent für seine CDU auf den Anspruch, eine Regierung zu bilden, nachdem die FDP bei 5,3 Prozent hängen und Schwarz-Gelb ohne Mehrheit blieb. Die Stimmung im grün-roten Lager war euphorisch. „Das ist doch fast eine Liebesheirat“, schwärmte Winfried Kretschmann ungewohnt aufgekratzt. Aber schon die Koalitionsverhandlungen zeigten ein bestenfalls sprödes Techtelmechtel, nach einem Jahr kritisierte Hauk Grün-Rot – nicht zu Unrecht – als „heillos zerstritten“ und verdammte – ganz zu Unrecht – „eine ideologisch motivierte“ Bildungspolitik, die auf Windkraft ausgerichtete Energiepolitik sowie die Verkehrspolitik, die auf weniger Straßenbau setze und den ländlichen Raum abhänge. Womit schon damals einiges aufgezählt war, was bis heute die Habenseite dieser Regierung ziert.
Gescheitert wäre der Machtwechsel fast an Stuttgart 21. Der Kompromiss rund um die Volksabstimmung kam erst nach heftigen grün-roten Turbulenzen zustande. Trotz oder besser wegen immer neuer Meldungen über Kostensteigerungen auf der nach oben offenen DB-Skala soll der reguläre Bahnverkehr auf der neuen Strecke nach Ulm gemäß dem aktuellen Zeitplan am 11. Dezember aufgenommen werden – ganz ohne den Tiefbahnhof, dessen Fertigstellung noch einige Jahre dauern wird.
Trotzdem: Wichtige gesellschaftspolitische Vorhaben wurden mit den Sozialdemokraten umgesetzt – die CDU hätte ihre Hand dazu nicht gereicht. BeamtInnen in eingetragenen Lebenspartnerschaften sind (erst) seit 2011 verheirateten KollegInnen gleichgestellt, und homosexuelle Paaren konnten sich, wie in allen anderen Bundesländern schon längst Usus, endlich auf dem Standesamt das Ja-Wort geben. Anderes musste gegen den zum Teil sogar diffamierenden Widerstand von Schwarzen und Liberalen verteidigt werden. Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt schafften es nur mit Mühe in die Bildungspläne, längeres gemeinsames Lernen und Lehren in der Gemeinschaftsschule, die grundsätzlich als Einheitsschule verunglimpft wurde, stieß beim Koalitionspartner im besten Fall auf Desinteresse, oft aber auch auf bildungsbürgerlich getränkte Ressentiments.
Fehlanzeige beim Wohnungsbau
Als Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) den damaligen Oppositionsführer Hauk zu einem gemeinsamen Vor-Ort-Besuch einlud, schien der angesichts des breiten Lobes und der Zustimmung aus der Elternschaft Gefallen zu finden an der neuen Schulform. Wieder im Landtag, malte er dennoch weiter am Feindbild. Im Rückblick resümiert Walker, Mehltau habe über dem Land gelegen, „und wir haben durchgelüftet“. Dass die Südwest-CDU bis heute auf der Höhe der Zeit gar nicht sein will, zeigt ihr Nein zur Quote oder zu der von der Ampel in Berlin durchgesetzten Streichung des Paragrafen 219a, der ärztliche Informationen über den Schwangerschaftsabbruch als Werbung unter Strafe stellt.
Eine Dauerbaustelle ohne messbare Erfolge bleibt der Wohnungsbau. Die Ressortverantwortung lag zunächst bei der SPD und wechselte 2019 zur CDU, die Gesamtverantwortung trifft aber die Grünen ebenfalls als den jeweils größeren der Koalitionspartner. Jetzt will die Bundesregierung endlich der Energieeffizienz zum Durchbruch verhelfen bei Neubau und Sanierung. Landesbauministerin Razavi, gegenwärtig Vorsitzende der BauministerInnen-Konferenz der Länder, könnte mit breiter Brust und immerhin 15 Jahren Erfahrung im Landtag die Pläne erläutern. Stattdessen entdeckt die glühende Stuttgart-21-Befürworterin und frühere Verkehrsexpertin ihrer Fraktion Putins Krieg als Argument: „In Zeiten steigender Baukosten und eines wachsenden Bedarfs an Wohnraum auch aufgrund der Entwicklungen in der Ukraine nun die Ansprüche an die Energieeffizienz von Neubauten weiter hochzuschrauben, ist völlig kontraproduktiv.“
Eine Kratzbürstigkeit, die sich schwarze HoffnungsträgerInnen schon allein deshalb leisten, um mit an der Oppositionsrolle der Union in Berlin zu basteln. Und Kretschmann muss sich zurechtfinden in der neuen Welt großer sozialdemokratischer Erfolge. Gut könnte sein, dass er sich schon bald, nach den Wahlen im Mai in Schleswig-Holstein und NRW, auf Bundesebene im klein gewordenen Grüppchen der Regierungschefs ohne rotes Parteibuch wiederfindet, an der Seite so prickelnder Gestalter der Zukunft wie Michael Kretschmer (CDU, Sachsen) oder Reiner Haseloff (CDU, Sachsen-Anhalt). Eine Aufgabe würde ihm gut zu Gesicht stehen: unter den schwarzen Kollegen selber durchlüften. Es bleiben höchstens drei Jahre Zeit.
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