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INTERVIEW„Wir fühlen uns desillusioniert“

■ Der kroatische Schriftsteller und PEN-Mitglied Albert Goldstein im Gespräch

taz: Herr Goldstein, wie würden Sie die Haltung der kroatischen Intellektuellen gegenüber der ziemlich wirkungslosen europäischen Politik beschreiben?

Albert Goldstein: Wir können nicht sagen, daß diese Politik wirkungslos ist, sondern eigentlich nur, daß sie nicht existent ist. Es gibt keinen politischen Willen, weder ist er formuliert worden, noch wurde er in irgendwelche faßbaren Handlungen umgesetzt. Ich und die meisten meiner Kollegen fühlen uns eher desillusioniert als betrogen. Wir alle glaubten, Europa bilde ein Ganzes mit eigenem Willen, mit einem eigenen Wertesystem, das konsequent angewendet würde. Nun kam etwas Tragisches zum Vorschein, nämlich daß Europa nur ein merkantiles System ist, das sich mit einer Art nekrophilem Voyeurismus selbst befriedigt.

Andererseits sind wir aufgewacht: Keiner von uns empfindet mehr die Notwendigkeit, nach Europa zu gehen — zu irgendeinem Europa. Wir werden unser eigenes „Europa“ schaffen müssen. In diesem Krieg zahlen wir den Preis für die Haltung der Europäer, die — gut informiert über die unbegreifliche Zerstörung und Barbarei — peinlich berührt in ihren Lehnstühlen sitzen bleiben. Nun, wir entschuldigen uns bei all diesen Leuten, diesen fähigen Lords, daß wir sie andauernd mit unserem Schicksal belästigen.

Neulich stellte ein deutscher Fernsehkommentator trocken fest: „Mitgefühl ist kein politischer Faktor.“ Wie würden Sie eine solche Feststellung im Kontext europäischer Zivilisation kommentieren?

Vom Standpunkt meiner Profession aus betrachtet, gehört Mitgefühl sicherlich ins Genre der Trivialliteratur, zum „Herzroman“. Mitgefühl dient dazu, Schuldgefühle loszuwerden, die der eigenen politischen Unklarheit, Passivität, Trägheit etc. entspringen. Vom praktischen Standpunkt gesehen, kann man sagen: die meisten Europäer kümmern sich einen Kehrricht um uns. Diese Gleichgültigkeit gründet sich ebenso in einem vollständigen Mangel an Verständnis unserer Situation wie in einem Mangel an Bereitschaft, sie ausgehend von der wirklichen Sachlage überhaupt verstehen zu wollen. Statt dessen sucht man die Situation mit einem Klischee zu fassen, mit vorgefertigten Denkmustern, die von der eigenen Interessenlage bestimmt sind: möglichst wenig hineingezogen zu werden, möglichst wenig zu investieren. Man bekommt den Eindruck, ganz Europa versuche, Jugoslawien zusammenzuhalten, um drei neue Grenzen zwischen Österreich und Griechenland zu verhindern. Und daß es diesem Ziel alle seine Deklarationen zu Menschenrechten, politischer Selbstbestimmung und dem Recht auf Unabhängigkeit unterordnet.

Der Krieg in Kroatien wird als ethnischer Konflikt zwischen Serben und Kroaten dargestellt.

Europa ist gewohnt, ethnische Konflikte in Südafrika im Fernsehen zu betrachten. Aber ich bin über die Blindheit unserer Nachbarn erstaunt, von denen Millionen als Touristen bei uns waren. Erstaunt über ihr Unvermögen, zwischen einem ethnischen Konflikt und dem Tiananmen-Syndrom zu unterscheiden, das der wirkliche Grund und die treibende Kraft des historischen Konfliktes ist. Unsere Nachbarn können die Ursachen des Konfliktes und die Mittel, mit denen er sich im Krieg manifestiert, nicht auseinanderhalten. Katalysator ist die mittelalterliche Mythologie eines sogenannten Großserbischen Reiches. Der ethnische Konflikt wird benutzt, um dieses Ziel zu erreichen. Der wirkliche Konflikt aber liegt in der Kontinuität von Berlin 1953, Ungarn 1956, CSSR 1968 und Tiananmen. Dieselben Kräfte sind jetzt in Kroatien am Werk.

In Kroatien ist man über das Schweigen der serbischen Intellektuellen schockiert, mit denen man immer lebhafte Kontakte hatte.

Ich habe Kontakte zu einigen Intellektuellen, darunter Bogdan Bogdanovic und Ivan Djurin, die sich nicht öffentlich äußern, weil sie in der vollständig kontrollierten Medienlandschaft Belgrads keine Gelegenheit haben. Sie sind Gesprächspartner, wenn wir über eine demokratische Zukunft reden und wenn wir diesen Wahnsinn verdammen. Sie haben ihre Vernunft nicht eingebüßt, denn das, was zur Zeit hier geschieht, hat nichts mehr mit Vernunft zu tun. Ich bin überzeugt, daß auch in Serbien selbst ein Bürgerkrieg entlang dieser Konfrontationslinie zu erwarten ist. Dann wird klar zutage treten, daß der Konflikt sich im Gegensatz von Demokratie und Dogmatismus begründet und nicht in dem zweier Nationen. Erst wenn dieser Riß Serbien selbst durchziehen wird, wird die wahre Natur des Konflikts offensichtlich werden, doch dies wird leider zu spät geschehen angesichts der Opfer, des Leidens und der Verwüstung in Kroatien.

Sie sind Mitglied des PEN-Clubs. Glauben Sie, daß einflußreiche Intellektuelle weltweit etwas dazu beitragen können, die Zeit des Leidens zu verkürzen, daß sie etwas in Bewegung setzen können, das den Fortgang der Zerstörung verhindert?

Sie versuchen es, doch es bleibt zu fragen, über welche Macht Intellektuelle überhaupt verfügen. Das betrifft die Zukunft Europas, will es demokratisch bleiben. Die Einflußnahme auf die öffentliche Meinung geschieht sehr langsam, und währenddessen werden hier auch Kulturgüter zerstört. Im Moment sehen wir etwas Unfaßbares vor sich gehen. Es war für uns unvorstellbar, daß jemand Dubrovnik und die Kathedrale von Sibenik bombardieren oder die Bibliotheken niederbrennen könnte.

In Vinkovci befand sich eine der seltensten und interessantesten Bibliotheken Ostslawoniens, die komplette Slavonica, bestehend aus 87.000 historischen Bänden, die über Hunderte von Jahren zusammengetragen worden waren. Sie ist jetzt niedergebrannt. Wir können die Zahl der zerstörten Kunstdenkmäler schon nicht mehr angeben. Vor einigen Tagen diskutierte der Kunsthistoriker Radovan Ivancevic die Frage: Was ist ein Kulturdenkmal?. Ist nur die Stadt Dubrovnik eines?

Wir haben immer gedacht, das wagen sie nicht. Wir alle haben ein tiefsitzendes Wertesystem. Würde die serbische Armee es wagen, ein Kunstwerk von Juraj Dalmatinac, einem der bedeutendsten kroatischen Renaissancebildhauer, zu bombardieren? Aber es gibt keine Grenze des Wagemuts. Er ist absolut und hat etwas von der Euphorie des Verlierers, der alle Grenzen überschreitet. Jemand, der dem Untergang geweiht ist, ist bereit, alles zu tun. Die Armee verhält sich so, weil sie intuitiv, nicht rational erfaßt, daß sie, historisch gesehen, der Verlierer ist.

Was ist Ihre Zielvorstellung, geht es um das Engagement der Intellektuellen?

Wenn man über Engagement spricht, meint man normalerweise einen ideologischen Begriff, auf den man sich seit den fünfziger Jahren bezogen hat. Nach dem Verschleiß der Ideologien, oder dem Ende der Ideologien — um mit Raymond Aron zu sprechen — ist dieser Typ von Engagement obsolet geworden. Trotzdem ist die Frage nach dem Engagement kein leeres Gerede. Jeder Intellektuelle, genauso wie jeder Bürger, sollte das ideologische Engagement durch ein anderes ersetzen, ein staatsbürgerliches, ziviles, das sich mit den Menschenrechten, dem Gewaltverzicht und den in nationalen Kulturen verkörperten Werten verpflichtet. Das sind keine ideologischen, sondern zivilisatorische Fragen.

Alle ungelösten Fragen in Osteuropa, in Kroatien und den anderen jugoslawischen Republiken, wirken indirekt auf Europa zurück.

Ich glaube, daß sie sogar direkt auf Europa zurückwirken. Doch Europa verschließt seine Augen. Ob es will oder nicht, wird es aber der einzige Ort sein, wo diese Probleme gelöst werden können, und zwar in einer adäquaten und zukunftsweisenden Form. Europa kann nicht davor wegrennen. Interview: Anita Kontrec

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