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Archiv-Artikel

„Wir alle diskutierten die Stadtguerilla. Sogar jeder Schüler“

Rudi Dutschke wollte mit der Waffe die Verhältnisse umstürzen. Dabei aber keine Menschen verletzen. Bitte? Der Exstudentenführer Klaus Theweleit über die Widersprüche von 1968: Warum die aktuelle Gewaltdiskussion um Dutschke für ihn absurd ist. Wie es war, Revolutionär zu sein. Warum er dann doch nicht Guerillero wurde

Interview PETER UNFRIED

taz.mag: Angestoßen durch die Medien diskutieren die Menschen in Deutschland, inwieweit Rudi Dutschke Stadtguerilla und RAF vorbereitet hat. Hat er?

Klaus Theweleit: Die heutige Diskussion um die Gewalt der 68er ist grundsätzlich ziemlich fehlgelagert.

Warum?

Erstens kann man Rudi Dutschke kaum begreifen, indem man die zentralen oder auch marginalen Papiere liest und kommentiert. Dutschkes Politik ist Aktivismus als Lebensform. Reden und subversive Aktion kommen vor dem Schreiben.

Zweitens?

Gewalt ist der subversive Kern dieser ganzen politischen Bewegung, der argumentative Kern von 1968, nicht das Problem eines Einzelnen. Zuerst einmal wurden alle politischen Äußerungen, die 1968 gemacht wurden, von den Betroffenen selbstverständlich als Gewalt betrachtet.

Zu Unrecht?

Subversive Aktion meint: Es muss politisch agiert werden, öffentlich. Das geht nur, indem man Regeln übertritt. Man muss dahin gehen, wo man nicht zugelassen ist. In eine Ratsversammlung, in ein Parlament. In eine Vorlesung, in der man kein Rederecht hat. Man geht dahin, man macht ein Sit-in, ein Go-in, ein Teach-in. Die Irregularität all dessen, was mit 1968 und Antiautoritarismus zusammenhängt, ist permanente Regelverletzung. Von bürgerlichen Wissenschaftlern, vom Uniapparat, vom Polizeiapparat wurden die Aktionen des SDS aber als Gesetzesverletzung gewertet: als Gewalt. Und zwar weit vor dem Steineschmeißen, den Knüppeln, der Bewaffnung.

Und Rudi Dutschke?

Ist der Protagonist dieser Sorte Aktionismus im öffentlichen Raum. Diese ganze Politik des SDS ist 1967/68 dazu da, mit solchen Aktionen Leute zu gewinnen. Die Gruppen zu vergrößern. 1967 saßen wir hier in Freiburg mit 25 Leuten an der Uni. Bis 1969 hatte sich die Zahl derer verdoppelt.

50 hört sich nicht nach viel an.

Für Freiburg war das wahnsinnig viel. Die Rede war: Wenn wir nicht in dieser Weise Gewalt ausüben, nimmt uns erstens niemand wahr, zweitens dringen wir nicht weit genug in jemanden ein, damit er sich damit auseinander setzt. Man muss also mit seiner körperlichen Physis auftreten, dann erst kommt die Argumentation. Wobei wir den eigenen Anteil Gewalt erklärten als Mindestantwort auf „strukturelle Gewalt“, die in den Verhältnissen und den Institutionen steckt. Also: „Ihr nennt das freie Lehre“. Aber wenn bestimmte Dinge an der Uni nicht möglich sind, dann ist das nicht freie Lehre, sondern Machtausübung. Dieser Machtausübung setzen wir eine Minimalform von Gewalt entgegen, die die Funktion haben soll, das Gewaltverhältnis offen zu legen, das tatsächlich da ist, nämlich: Ihr holt die Polizei und ähnliche Dinge, wenn euch nicht passt, was wir fordern, etwa universitäre Mitbestimmung. Es gab aber keine Prügeleien, es wurde auch kein Prof körperlich angegriffen. Man musste dessen Platz erobern und ihn argumentativ behaupten.

Irgendwann flogen Steine.

Das war etwa die Frage, wenn eine Demonstration am Amerika-Haus anstand. Schmeißt man die Scheiben ein oder schmeißt man sie nicht ein?

Und?

Für manche galt: keine Steine gegen das Amerika-Haus in Freiburg. Vorlesung sprengen: ja; um die Gewalt zu zeigen, die in einer solchen Form steckt. Steine schmeißen: nein, das kann Leute verletzen. Das führte dazu, in einem bestimmten Moment 1968, dass der SDS darüber gespalten war.

Was geschah?

Da es keinen Fraktionszwang gab und wir das mit dem Antiautoritären ernst nahmen, gab es hier zwei Demos. Eine SDS-Hälfte machte eine pazifistische, eine gewaltfreie Anti-Vietnam-Demo, die andere Hälfte ging zum Amerika-Haus.

Und machte kaputt, was sie kaputt machte?

Nein. Das Haus war von Polizisten abgeschirmt, man kam gar nicht ran. Aber das wurde dann nachts nachgeholt. Eine Gruppe ging hin und warf dort mit Ziegelsteinen die Scheiben ein. Das war dann monatelang verbarrikadiert mit Hölzern. Die andere Hälfte billigte das nicht.

Wo standen Sie?

Ich war im Prinzip für das Steineschmeißen gegen das Amerika-Haus. Das war für mich ein vertretbarer Akt symbolischer Gewalt.

Sie sagen: im Prinzip?

Ja, ich habe mich an dieser Aktion dann nicht beteiligt, weil ich gleichzeitig ein Freund des Amerika-Hauses war. Ich bezog da Zeitschriften, Bücher, Platten. Ich wusste, dass die Leute völlig in Ordnung waren.

Dann kam die Diskussion über die Trennung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen. Das ist auch Dutschke.

Ja. Die, die ein bisschen schärfer nachdachten, wussten, dass man diese Grenze nicht wirklich ziehen kann. Das ist aber eher die Dutschke-Linie gewesen, diese Gewalt gegen Sachen zu vertreten und das Dilemma nicht offen auszusprechen.

Die Kaufhausbrandstiftung durch Ensslin und Baader war 1968 dann aber okay.

Ein bisschen schon, aus dieser Unschärfe. Gleichzeitig tauchte bei Dutschke aber in jedem zweiten Satz das Wort „Charaktermasken“ auf. Das unterscheidet ihn von den RAF-Leuten in jedem Moment seiner Geschichte fundamental.

Inwiefern?

Es hieß: keine Molotowcocktails, keine Attentate auf Leute, politische Machthaber, Schah oder Wirtschaftsbosse, denn es kommt immer der Nächste an die Stelle, der genau dasselbe tut. Das meint der Begriff der Charaktermaske: diejenigen zu töten, die die Macht verkörpern in einem bestimmten Punkt der Geschichte, war für Dutschke ein Irrweg. Ganz klar Anti-Baader- und Anti-RAF-Rede. Das gilt für Rudi bis zum Schluss.

In einem zu Beginn dieses Jahres erschienenen Buch von Jan-Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung stehen im Titel der Name von Dutschke und der des RAF-Gründers Andreas Baader nebeneinander. Kein Komma trennt sie.

Das ist natürlich eine so auch gemeinte Provokation. An sich ein Dutschke-Verfahren. Aber auch eine Frechheit und eine Gemeinheit.

Wird Dutschke dadurch Gewalt angetan?

Ja, das ist ein Gewaltakt, Dutschke und Baader so parallel zu schalten. Ein bisschen erinnert mich Herrn Reemtsmas Empfindlichkeit an die unserer Professoren damals.

Inwiefern?

Ich kann ja verstehen, dass Menschen, die in guter Übereinstimmung mit der bürgerlichen Ordnung leben und denen es gut geht dabei, immer in der Angst sind, dass irgendwelche unbedarften kriminellen Arschlöcher – wie Baader eins war – einem das, was man hat, zerstören oder wegnehmen wollen, womöglich sogar das Leben. Und das dann auch noch als politischen Befreiungsakt ausgeben. Dieses Gefühl teile ich absolut. Aber wenn man so klug ist, wie die Hamburger Sozialforscher eigentlich sind, dann müssten sie wenigstens ihren Differenzierungsapparat nicht ausschalten.

Sie sagen, man könne 1968 nicht über Papiere begreifen. Macht es Sinn, mit Zitaten zu wedeln wie Dutschkes „Natürlich bin ich bereit, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen“?

Das macht Sinn, wenn man es richtig liest. Es fehlt ein entscheidender Begriff in der heutigen Diskussion, jener der gespaltenen, oder wenn man böse sein will, schizophrenen Argumentation. Alle im SDS sammelten Geld für Waffen für den Vietcong. Für kubanische Revolution mit Waffengewalt. Für Aufstände in Südamerika gegen die von den Amerikanern unterstützten Militärregimes. Antikolonialer Befreiungskampf mit Waffen war überhaupt keine Frage. Das Recht zur bewaffneten Gegenwehr wurde nicht angezweifelt.

Wo beginnt das Recht zur bewaffneten Gegenwehr?

Genau das waren die Fragen: Haben wir diesen Zustand hier? Wer ist hier der Besatzer? Wir sind nicht im antikolonialen Befreiungskampf. Wir haben es mit alten Nazis zu tun, die ihre Geschichte verbergen wollen und jetzt hier Demokratie spielen. Die nichts von der Vernichtung der Juden gewusst haben wollen. Wo ist die Aufarbeitung? Sei es auf der Ebene der Justiz, der Universitäten, der Betriebe. Wer killte die Arbeiterbewegung? Wir wollten die Abschaffung der Betriebshierarchien, der Kommandostrukturen im Arbeitsalltag. Wir folgten der räterepublikanischen Argumentation.

Räterepublikanisch heißt in einer Demokratie: nicht mit der Waffe kämpfen …

… aber selbstverständlich außerparlamentarisch. Denn parlamentarisch geht’s nicht, weil die Springer-Presse und das Fernsehen die Köpfe vernebelt haben und die Politiker Wirtschaftslobby sind. Aber im Prinzip muss demokratisch vorgegangen werden, besonders in der Uni, wo viele Leute sind, die denken und reden können: Was soll man da mit einer Waffe?

Anderswo durfte also gekämpft werden.

Ja, klar. Rudi sagte: „Natürlich würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen, in Vietnam, in Kuba, in Südamerika.“ Das unterstrichen alle. Aber es galt auch: Hier nehme ich keine Waffe in die Hand, hier ist eher das Gegenteil angesagt.

Nein. Dutschke will „die Nato zerschlagen“ und den „Imperialismus“ bekämpfen, wo er auftritt. Ich zitiere: „… dann muss … auch hier in der Bundesrepublik … geschlagen werden“.

Das ist der Vietnamkongress, Februar 68. Da habe ich ihn auch so reden hören, öffentlich. Es ist allein schon deshalb völlig absurd, 2005 damit als Neuigkeit anzukommen. Jeder konnte das hören. Der Vietnamkongress war die öffentlichste Stelle überhaupt, an der man so was sagen konnte. Damals kam, übrigens unter der Beteiligung von Enzensberger, Neuss und ähnlichen Prominenten das Stichwort Nato in die Debatte. Und die BRD als ihr Teil.

Willy Brandt war Außenminister der großen Koalition.

Ja, heute verbucht als Friedensfreund. Aber er war kein Gegner des amerikanischen Krieges. Nicht die Spur. Gerade die von der Berlin-Luftbrücke ernährte Berliner Sozialdemokratie, aus der Brandt kam, war so proamerikanisch, dass gar nichts in Frage gestellt wurde, was die USA taten. Jeder Schritt wurde mit vollzogen. Das ergab in unseren Köpfen die Antwort: Aktionen gegen die Nato. Das war eine große Verbalbombe.

Manche nahmen das als Anweisung.

Man muss einen anderen Argumentationsstrang hinzunehmen. Es hieß, wir würden mit unseren Aktionen das Verhältnis zu Amerika zerstören, das für Deutschland lebenswichtig sei. Im Hintergrund dabei die Notstandsgesetze, die wir als Gesetzeswerk begriffen haben, das die Möglichkeit schaffen sollte, im Falle von größeren inneren Konflikten Deutschland unter Militärrecht zu stellen und alle möglichen demokratischen Institutionen außer Kraft zu setzen.

Die waren für Sie gemacht.

Das war sozusagen extra für uns gemacht beziehungsweise gegen uns. Dass die Bundeswehr, ein Nato-Teil, eingesetzt werden könnte auch nach innen. Und für diese Situationen ist das von Rudi gesprochen: „auch mit der Waffe in der Hand“. Eine Art blinder Notwehr.

Das sahen viele so?

Ja. Das hätten viele so unterschrieben, unabhängig davon, ob das Zweck gehabt hätte oder nicht. Im Gegensatz dazu wurden die Aktionen und Argumentationen der RAF durchweg unter der Fragestellung geführt: Hat diese Praxis hier und jetzt einen Sinn oder hat sie keinen?

Was taten Sie?

Wir sagten: Okay, wenn die Bundesrepublik – wie das mit Fidel Castros Wort heißt – der wichtigste Bauer im imperialistischen Schach der USA ist, dann müssen wir diese Bundesrepublik entsprechend bekämpfen.

Daraufhin planten Sie die Stadtguerilla, um den Staat umzuwälzen?

Planen ist zu viel gesagt. Es stand zur Debatte. Aber diese Diskussion war kein bisschen geheim und kein bisschen Dutschke-beschränkt. Sie wurde in jeder SDS-Gruppe geführt, sogar in jeder linken Schülergruppe. Und durchdiskutiert wie jedes andere theoretische Problem auch.

Wie lief das?

Die Tupamaros aus Uruguay waren auf der Ebene der Schriften die erste hier bekannt gewordene Guerilla-Gruppe. Wir übersetzten das und diskutierten. Und sagten: Ja schön und gut, aber in welcher deutschen Stadt geht das?

Antwort?

Überwiegend: Das geht hier nicht.

Warum agierte keine Stadtguerilla in Freiburg?

Die Fragen waren: Wer kann sich hier wo verstecken, ohne aufzufallen? Wer würde Unterstützung bekommen und Unterschlupf, wenn die Polizei eine Razzia macht? Antwort: niemand. Nirgendwo. In keinem Stadtteil. Unser Südamerikaner, Daniel B., sagte: Dann müssen wir eine Untergrundgruppe im Schwarzwald bilden.

Wie Robin Hood?

Der hatte keine Ahnung vom Schwarzwald. Man kannte das von verschiedenen Hütten und Festen. Wenn wir da eine Nacht irgendwo waren und morgens um sechs standen immer noch Autos da, die da nicht hingehörten, dann waren da aber sofort die Bullen.

War die Diskussion todernst, die Sie wiedergeben?

Halb todernst und halb nicht todernst. Sie war dann todernst, wenn einer diese Positionen für sich ganz angenommen und, wie die RAF-Leute, gefordert hat: Wir müssen diese Stadtguerilla machen, wir müssen z. B. die Nato angreifen. Wir versagen sonst als Revolutionäre.

Was sagten Sie ihm?

Wir haben das argumentatorisch abgelehnt: Erstens schaffen wir uns damit nur Gegner. Zweitens: Wohin willst du gehen? An welchen Natozaun willst du welche Bombe wohin legen? Du kommst doch gar nicht an die Dinger ran …

die RAF kam ran.

Ja, aber sie mussten einen US-Soldaten dafür umlegen, um an seinen Pass zu kommen.

Mord also.

Ja, genau. Willst du jemanden umlegen? Ich nicht. Das war dann eine definitive Entscheidung. Es ging aber auch um die einfachste Ebene. Wenn man sich verabredet – zum Beispiel morgens um 9 Uhr –, wer hat denn überhaupt diese Verlässlichkeit? Ein Viertel der Leute ist nicht da, weil sie noch pennen.

So kann man keine Stadtguerilla machen.

Man kann das auf diesen Ebenen wirklich für lächerlich erklären. Wir können die Befreiungsbewegungen unterstützen, wo sie sind in der Welt, aber wenn wir hier anfangen, mit Waffen in der Hand durch die Vororte zu laufen? Im besten Fall lachen die Leute uns aus, im schlechteren Fall sind wir in einer halben Stunde gefasst. Das geht nicht.

Nicht mal in Berlin?

Leute, die anfingen, auf einer Terrorismus-Ebene zu agieren, sind überall verpfiffen worden, wo sie es versucht haben. Das waren zum Teil auch Leute, die keine Ahnung hatten von der Realität der deutschen Gesellschaft. Die gab es im SDS auch. Leute aus relativ behüteten Elternhäusern, die ihr Studium bezahlt gekriegt hatten und an der Uni radikale Theorien lernten.

Sie kriegten kein Geld von zu Hause?

Nein, ich hätte meinen Vater verklagen müssen. Aber so weit ging die Feindschaft nicht, also musste ich jobben.

Was?

Zum Beispiel Hochbau, Tiefbau. Auf einer Kieler Werft. Kraftfahrtbundesamt in Flensburg.

Was bekamen Sie mit, was andere nicht wussten?

Die Bedingungen in deutschen Betrieben. Ein ungeheurer Horror. Der alte Unterdrückungs- und Volksgemeinschaftsnazifaschismus, nur jetzt auf Vorarbeiterdruck. Wer zweimal am Tag pissen ging, der stand schon im Verdacht der Drückebergerei und wurde von den Vorarbeiterarschlöchern auch wirklich angezeigt. Arbeitersolidarität untereinander? Der Horror. Und in den Büros waren kleine Angestellte – alle mit Zeitverträgen damals. Jedes halbe Jahr zitterten sie, ob die verlängert werden, und entsprechend befiesten sie sich untereinander. Wenn da einer pissen ging, dann lederten die anderen über den ab. Ein Grauen.

Die proletarische Revolution …

… die Leute, die behaupteten, wir stünden kurz davor, waren einfach beknackt. Die wussten nichts von diesen Dingen. Die hatten ein paar Seiten Adorno gelesen oder Wilhelm Reich, und dann waren sie in einer anderen Welt.

Die spätere RAF-Führerin Ulrike Meinhof war auch gehobenes Hamburger Bürgertum.

Das will ja heute auch niemand mehr hören, aber als Ende 1969 der SDS zerfiel, haben wir über Meinhofs konkret-Kolumnen gelacht. Das haben wir als bürgerliches Geschreibe empfunden, als Schreibmaschinenradikalismus. Wichtig waren die SDS-Papiere aus Berlin und Frankfurt, später auch Heidelberg und Tübingen. Die Zeitschrift neue kritik war Pflichtlektüre. Aber konkret war Linkssein für Zurückgebliebene.

Warum?

Weil die direkte Aktion fehlte. Was wir in der Uni gemacht haben jeden Tag, das war eine Dauerverausgabung. Man rotierte den ganzen Tag. An irgendeinem Seminar, in irgendeiner Gruppe, an irgendeinem Ort. Nachts um drei noch Flugblätter gedruckt. Morgens verteilt, dann Aktion an der Uni. Abends Sitzung. Ging bis etwa elf. Anschließend wurde in der Kneipe weiterdiskutiert. Ein paar aus der Gruppe sind 1968 auch in die IG Metall eingetreten. Das kam dann noch dazu, die Wochenenden mit IG-Metall-Lehrlingen. Nach Hause kam ich nachts und stritt dann mit Monika.

Sie ist heute noch Ihre Frau.

Sie sagte: Warum kommst du erst jetzt? Was war wieder los?

Was war los?

Alles Mögliche war los. Der Revolutionär rotiert. Studieren ging noch gerade, wir studierten immerhin das, was wir politisch in Seminaren brauchen konnten. Aber alles Private brach ziemlich zusammen.

Man hat sich in kürzester Zeit verbrannt?

Drei Jahre sind gar nicht so kurz. Es häuften sich Fragen: Studiere ich zu Ende? Wovon lebe ich in den nächsten zehn Jahren? Mache ich doch eine bürgerliche Karriere? Ist das Verrat? Und was ist mit der Liebe? Kindern? Mit Vater im Knast? Wie lange wird das überhaupt laufen, was wir hier machen? Wie verlässlich sind überhaupt die andern? Oder doch Lehrerkarriere? Die letzte Entscheidung wurde mir abgenommen durch Konfrontation mit meiner Verfassungsschutzakte. Ich war eine Sprecherfigur des SDS. Gegen die drei, vier bekanntesten Leute liefen so um 15 Prozesse, Landfriedensbruch. Nix mehr mit Lehrer werden.

Brandt hat ja dann mit der sozialliberalen Koalition eine Generalamnestie ausgesprochen.

Ja, aber zugleich die Berufsverbote. Also nicht, um uns einen Weg zurück ins bürgerliche Leben zu ebnen, sondern um die Gerichte zu schützen. Das hätte sonst Prozesse wie den von Fritz Teufel …

damals Kommune-1- und Spaßguerilla-Gründer, später als 2.-Juni-Terrorist verurteilt …

… es hätte solche Prozesse mal 500 ergeben, und die Verurteilungen hätten natürlich die Betroffenen massiv radikalisiert. Durch die Amnestie wurde, ganz schlau, die Verbindung zum tatsächlich aktionistischen Terrorismus mit Waffen gekappt.

Trugen Sie Waffen?

Nein, ich habe in der ganzen Geschichte nie eine Waffe in der Hand gehabt. Ich hasse Waffen.

Seltsamer Widerspruch. Stadtguerilla planen und Waffen hassen.

Das ist der wirklich entscheidende Punkt. Direkte Aktion, Pazifismus, Abneigung gegen Waffen, Geld sammeln für Waffen, argumentative Unterstützung dieser Kämpfe – das lag alles gleichzeitig in den Köpfen vor. Stadtguerilla und gleichzeitig: Es werden keine Menschen verletzt.

Logisch geht das nicht zusammen.

Aber klar geht das. Diese Widersprüchlichkeit musste man und muss jeder, der sich heute damit befasst, aushalten können. Das ist der entscheidende Punkt. Für mich war damals und ist die Grenze bis heute der Schutz des anderen Körpers. Die Haut der anderen ist unverletzlich. Das ist das Resultat des Mordens aus Weltkrieg II.

Pazifismus und Gewalt …

… sind nur scheinbar Gegensätze. Nur in einem Denksystem, in dem die Studentenbewegung nicht agiert hat und in dem Dutschke nicht gedacht hat. Pazifismus als Abwehr von Nazigewalt, Antimilitarismus also, war eine Selbstverständlichkeit. Ebenso selbstverständlich aber auf der anderen Seite für Sieg im Volkskrieg und Guerillakampf in Südamerika zu reden.

Und wenn Leute einen auf eins von beiden festlegen wollten?

Man konnte beide Sachen genuin vertreten, und es stimmte auch. Rolf Dieter Brinkmann zitiert in seinen Texten gern einen Satz von Fritz Mauthner: „Widersprüche gibt es nur in Wörtern.“ Im Körper nicht. Agierende Menschen kommen nicht umhin, sich zu widersprechen; jedenfalls in manchen historischen Lagen. Und nicht alles, was der politischen Theorie nach „richtig“ wäre, kann man auch tun. Schluss: Unter Bedingungen der parlamentarischen Demokratie ist bewaffneter Kampf Blödsinn. Das war für mich relativ früh klar.

Für Dutschke erst später.

Als großer Sammler von Leuten musste er aber alle diese Seiten argumentatorisch aufrechterhalten und wollte das auch. Also auch die Stadtguerilla-Leute nicht grundsätzlich abstoßen, sie könnten ja wiederkommen wollen. Für Dutschke ist entscheidend, dass alles, was in der Linken diskutiert wurde, in seinem Kopf vorlag und er auf jeder Ebene eine Antwort hatte oder eine Antwort versuchte. Bis hin zum Christentum als Grundlage eines humanen Sozialismus.

der ideelle Gesamttheoretiker der Bewegung?

Ja. Die Leute, die dies Mehrdeutige, dies ständige Ausbalancieren verschiedenster Theorien nicht aushielten, die so um 1970 erschöpft zusammenbrachen und Angst hatten, es würde keine Organisation sie mehr tragen, gingen zahlreich in die K-Gruppen. Oder in den Untergrund. Im Grunde war das ein Ruf nach Papi-/Mama-Ordnungen.

Mit einem veränderten Verhältnis zur Gewalt?

Ja, mit einem jetzt eindeutigen. Ab hier war die Gewalt ganz anders impliziert als vorher. Sie wurde zum Kern des Organisatorischen, im RAF-Untergrund wie auch bei den K-Gruppen in abgemilderter Form. Die bolschewistischen Kader, die hierarchisch auf Befehlsempfang geeicht sind, haben ja diese soldatische Seite und sind eine Gewaltkonstruktion. In der RAF dann offen als Pflicht zum Attentat.

Was war mit den anderen?

Die blieben unorganisiert im Raum. Teils trafen sie sich in Freundesgruppen, informellen Gruppen, manche entschieden sich für Familie, Kinder.

Sie auch?

Wir sind 1972 aus Wohngemeinschaften rausgegangen mit unserem ersten Kind, weil wir sagten, das läuft nicht mehr mit den Leuten, mit denen wir gewohnt haben. Ein Teil neigte zu K, ein Teil kippelte so auf der Terrorismuswippe: soll man, soll man nicht? Für uns war klar, wir wollen nicht, wir haben dann nur noch mit einem oder zwei Freunden Mini-Wohngruppe mit Kindern gemacht.

Dieses Interview ist der erste Teil eines Gesprächs, das in dem im Spätherbst erscheinenden taz journal „Rudi Dutschke“ in voller Länge abgedruckt wird. In Teil II spricht Klaus Theweleit über Dutschke und Habermas, Hendrix, Harald Schmidt.

PETER UNFRIED, 41, ist stellvertretender Chefredakteur der taz.