„Wir alle bringen Besonderheiten mit“

Mit Behinderung Im Stück „Die Zeitraffer“ bringen das freie Duo „Die Azubis“ und das Theater Klabauter ganz unterschiedliche Perspektiven aufs Thema Zeit auf die Bühne. Zu sehen ist es auch beim 1. „Aussicht“-Festival

Schauspielerinnen mit Leib und Seele: Sabrina Fries (l.) und Agnes Wessalowski Foto: Theater Klabauter

Interview Robert Matthies

taz: Herr Fischer, Herr Weiß, haben Menschen mit Behinderungen einen besonderen Umgang mit Zeit?

Kai Fischer: Die Darstellerinnen und Darsteller von Klabauter bringen natürlich alle etwas Besonderes mit, nämlich ihre Behinderung – und damit auch eine besondere Perspektive auf die Frage, wie wir Zeit erleben und nutzen, und damit auch auf die Frage, wie wir eigentlich miteinander leben und wie wir miteinander leben möchten.

Spielen auch die unterschiedlichen Formen von Behinderungen eine Rolle?

Fischer: Wenn du im Rollstuhl sitzt und darauf angewiesen bist, dass dich jemand abholt, dann hast du ein ganz anderes Gefühl für das Warten und die Zeit. Einige Darsteller wiederum wissen, dass sie vielleicht nur noch drei, vier Jahre zu leben haben: Sie begreifen das Vergehen der Zeit für sich wieder ganz anders.

Wie gehen Sie mit den Besonderheiten auf der Bühne um?

Fischer: Alle Darsteller haben ihre Art von Behinderung und wir versuchen, alle so zu präsentieren, dass sie zu dem Thema etwas sagen können. Man muss erst mal herausfinden, wer welche Qualitäten hat und wie man sie zur Geltung bringt, damit der Zuschauer den größtmöglichen Gewinn hat. Manchmal ist die Arbeit eher körperlich, manchmal eher installativ, dann wieder performativ. Und wenn die Behinderung wichtig ist, dann wird sie auch zum Thema gemacht. Wir arbeiten mit den Behinderungen, kaschieren sie nicht, sondern setzen sie auch mal ganz klar in den Mittelpunkt. Darüber kommt dann ein Thema zum Vorschein, über das man reden kann.

Kai Fischer

Foto: Klabauter

42, ist Kulturwissenschaftler und arbeitet als Schauspieler, Regisseur, Videoszenarist und Theaterpädagoge, seit 2009 mit Christopher Weiß im Duo „Die Azubis“.

Zum Beispiel?

Fischer: Es gibt eine Szene, in der es um diese Parship-Werbung geht, dass sich alle elf Minuten jemand verliebt. Darin steckt ja quasi eine Zeitvorgabe: Du hast elf Minuten Zeit, dich zu verlieben. Und eine Performerin fordert das ganz direkt ein, indem sie auf den Zuschauer zugeht und fragt: Liebst du mich? Das ergibt natürlich andere Assoziationen, als wenn es eine Schauspielerin ohne Handicap wäre.

Sie arbeiten also eher assoziativ?

Fischer: Wir nennen das Ganze ein „theatrales Assoziationsuhrwerk“, weil wir viel mit Bildern und Musik, choreografischen und visuellen Elementen wie Licht- und Schattenmalerei arbeiten, die ja auch eine besondere Beziehung zur Zeit haben, weil es vergängliche Materialien sind. Das alles zusammen ergibt keine Narration, sondern ein Assoziationscluster – wie ein Uhrwerk, das sich immer wieder selbst antickt, und dann gibt es neue Verknüpfungen.

Wie gehen Sie mit dem Risiko um, die Behinderungen nur auszustellen?

Christopher Weiß

Foto: Klabauter

39, ist Schauspieler, freier Regisseur und Autor für die Jugendtheatersparte des Theaterensembles „boat people projekt“ in Göttingen.

Christopher Weiß: Wir suchen als Theatermacher gemeinsam mit dem Ensemble selbst immer wieder die Grenze zwischen Sichzeigen und Ausstellen. Für mich ist es erst mal ein Sichzeigen und Gesehenwerden – so wie man ist. Deshalb bin ich selbst Künstler geworden und auch für die künstlerischen Persönlichkeiten im Ensemble ist das wichtig.

Die Darsteller*innen arbeiten im Theater Klabauter ja auch hauptberuflich.

Weiß: Genau. Amon Nirandorn zum Beispiel spielt und man fragt: Kannst du mal bitte dorthin gehen? Und er sagt: Natürlich, ich bin Schauspieler! Er hat ein Bewusstsein von sich und kann auch selbst Grenzen setzen. Er wird nicht missbraucht, weil er weiß, in welchem Rahmen er sich bewegt und sagen kann: Das mache ich und das nicht.

Äußern alle Darsteller*innen so ein deutliches Bewusstsein von ihrer Arbeit?

Weiß: Nein. Emily Willkomm zum Beispiel sitzt im Rollstuhl und spricht nicht. Ihr unterstellen wir den Text, indem wir eine Off-Stimme nutzen und sie so mit einem Performer sprechen lassen. Das ist für mich tatsächlich an der Grenze. Es funktioniert so, aber gefragt haben wir sie nicht.

Im Theater Klabauter arbeiten zwölf Schauspieler*innen mit Behinderungen professionell und hauptberuflich.

1998 ist es in Zusammenarbeit mit der Dia­konie-Stiftung Rauhes Haus entstanden. Das Ensemble entwickelt eigene Stücke oder bearbeitet klassische und zeitgenössische Texte.

Das Theater ist Mitglied im Dachverband freier darstellender Künste Hamburg und hat seit zehn Jahren auch eine eigene Spielstätte im Rauhen Haus Borgfelde.

Fischer: Dieses Ausstellen ist aber so deutlich, dass wir die Zuschauer nicht manipulieren, sondern damit konfrontieren: Wir unterstellen ihr jetzt einen Text, geh du damit um. Weil der Kontrast auf der Bühne so klar ist, muss ich mich dazu positionieren. Es ist eine ganz bewusste Entscheidung.

Theater mit Menschen mit Behinderungen wird oft nur als soziales Projekt gesehen, die künstlerische Leistung gerät aus dem Blick.

Weiß: Mich hat sehr beeindruckt, als mich mal jemand fragte: Willst du den Hamlet so spielen, wie du denkst, dass man ihn spielen muss, oder so, wie du denkst, dass nur du ihn spielen kannst? Das habe ich bei der Arbeit hier oft gedacht: Diesen Abend kann nur das Klabauter-Ensemble in dieser Form gestalten, mit dieser Ästhetik, dieser Besonderheit und zum Teil Schrägheit. Das zeigt für mich, dass es ernst zu nehmende Künstler sind. Wir alle bringen etwas Besonderes mit. Natürlich gibt es soziale Grenzen und diagnostizierte Krankheiten, aber auf der Bühne bringen sie Besonderheiten mit wie andere Künstler auch.

„Die Zeitraffer“: Di, 4. 7., 19 Uhr, Theater Klabauter, Jungestraße 7a. Weitere Aufführungen: Mi, 5. 7., 19 Uhr, 9. 7., 16 Uhr, 11. 7., 15 Uhr und 16. 7., 16 Uhr

Do, 13. 7., 21 Uhr, beim 1. „Aussicht“-Festival für professionelle Mixed-abled-Kompagnien vom 12.–15. 7. im Monsun-Theater