Wintersportwahn bei ARD und ZDF: Televisionäres Prozac
Und täglich grüßt das Skihaserl: An Wochenenden übertragen ARD und ZDF von morgens bis abends von den Loipen und Schanzen der Welt. Was ist daran bloß so attraktiv?
Es geschah 1959. "Tausende", jubelte Heinz Maegerlein anlässlich eines Skirennens ins Mikrofon, "standen an den Hängen und Pisten." Die missverständliche Formulierung sorgte für Schlagzeilen; ein ganzes Volk nahm prüde kichernd Anstoß.
So eine Reaktion wäre heute nahezu undenkbar. Als Gerd Rubenbauer bei Olympia 2004 verbal fummelte, hörte kaum noch jemand hin. "Merlene Ottey - jetzt plustert sie die Backen auf, die wir über Jahre hinweg bewundert haben", huldigte er Jamaikas Sprintlegende. Das blieb ähnlich ohne Echo wie - nach einem Diskus-Fehlwurf von Bryan Clay - der Verweis auf dessen vorherigen, gültigen Versuch: "Jedenfalls hat er einen guten stehen."
Einst - als noch nicht das Geld den Sport regierte und "live" ein Grund zum Staunen war - gerieten Direktübertragungen zum kulturellen Hochamt. Wenn auf dem Eis Kilius/Bäumler der Protopopowschen Todesspirale zum Opfer fielen, wenn Helmut Recknagel zum Skisprunggold flog, waren das Straßenfeger. Für den gläubigen Betrachter stand hinter jedem Kommentator Goethe und hinter jedem Sieg ein Wille aus Stahl. Heute befürchtet er dort Bohlen und spanische Ärzteteams. Omnia mutantur - nicht unbedingt zum Besseren.
Dennoch verhindern weder Kommerz noch Eigenblutdoping, dass ARD und ZDF uns mit mehr Sport versorgen als je zuvor - jetzt, an den kalten Wochenenden, gar von morgens bis nach Einbruch der Dunkelheit. Und das kommt offenbar an. Nur wieso? Den Weltcup von heute umgibt der romantische Zauber einer Ampulle Epo. Was fasziniert uns an einem solchen Trauerspiel, während draußen vor der Stadiontür mit Krieg und Klimakatastrophe, Wirtschaftskrise und Verfall das wahre Drama unserer Zeit Konturen gewinnt?
Die Antwort könnte lauten: uns reizt just dieser Kontrast. Die Welt bricht zusammen, das Rennen geht weiter. Es hat etwas Beruhigendes, wenn wenige Wochen nach dem Börsencrash Magdalena und Michael dem Schießstand entgegenhecheln, als wäre nichts gewesen, wenn Martin unverdrossen "den perfekten Absprung" sucht, die unvermeidliche Anni ihre Runden dreht, Ronny das Feld "von hinten aufrollt", Sandra "alles in Grund und Boden fährt". War das nicht voriges Jahr schon so? Grüßt nicht täglich das Skihaserl? Verlässlich ist das, eingebunden in feste Regeln zudem. Und weil die Dinge im wirklichen Leben anders liegen, verleiht es uns Halt. Die Relevanz dieses Geschehens liegt in seiner Irrelevanz. Vorbericht, Wettkampf, Analyse, Highlights - wir finden Trost in immer gleichen Bildern und Ritualen, in zeitlosen Worthülsen, Floskeln und missglückten Metaphern, im ewigen Aufschrei: "Wo ist Behle!"
Zum Pathos gesellen sich die Euphemismen. "Leider nicht so geglückt", lautet die Standardformulierung des Kommentators für "indiskutabel". Plumpst ein Skiadler verfrüht vom Himmel, was meist geschieht, sagt man: "Da ist noch Luft nach vorn." Scheitern wird selten Talentmangel oder fehlender Technik angelastet, sondern "Trainingsrückstand", dem Material oder, wie ein bayerischer Kombinierer einmal erklärte: "Durch dös, dös gschnien hoat". Doch es geht eben nicht in erster Linie um kritische Begleitung. Es geht ums Wohlgefühl, um televisionäres Prozac.
So vermeidet man alles, was im Zuschauer mehr voraussetzt als den IQ eines Gläschens Glühwein. Wie Andrea Henkel ihr Rennen gestalten werde? "Ich versuch mein Bestes", gelobt die Athletin bescheiden. "Was dabei rauskommt, hängt auch von den anderen ab." Zum Dank erhält sie ein strahlendes "Viel Glück!". Solche "Interviews" entbehren traditionell jeder Substanz. Es wird geheimelt, gewärmelt und vorgegaukelt, in erster Linie heile Welt. Die "Mannschaftsstimmung" ist fast immer "einfach toll", man freut sich "total" aufs Rennen, hernach bleibt man im Sieg bescheiden und gefasst in der Niederlage; wer "Geil!" schreit oder offen weint, gilt als Sympathieträger.
Aber nicht nur solche Höhepunkte erwecken heitere Empfindungen in uns. Wir Zuschauer freuen uns irgendwie über alles, selbst über banalste Kommentare und nicht zuletzt darüber, dass wir endlich wissen, wo Behle ist, denn als Langlauftrainer steht er nun alle Jahre wieder an der Loipe und brüllt: "Sechs auf den Dritten, den packst du, kooomm, Axel, auf gehts, hopp hopp, hopp!" Im Vertrauten liegt Sicherheit. Nennen wir es die tröstende Kraft der Repetition. Aus Wintersport ist gefrorene Nostalgie geworden, Cocooning im Eiskanal, ein Bollwerk gegen die Wirklichkeit.
Ob in diesem Paralleluniversum alles mit rechten Dingen zugeht, will niemand so genau wissen. Wer huscht da durchs Bild - ein sauberer Sportler oder eine Marionette der Dopingmafia? Wen kümmerts! Behle brüllt: "Hopp, hopp, hopp!" - und alles ist gut. Same procedure as every year - Miss Sophie spielt im Schnee.
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