Wintersport-Riese Norwegen: Kleines Land, große Wirkung
Norwegen zählt gerade mal 4,8 Millionen Einwohner, aber sammelt trotzdem fleißig Medaillen bei Olympia. Wie geht das? Und warum? Ist etwa Fridtjof Nansen schuld?
VANCOUVER taz | Peter Kirsebom, Jahrgang 1930, macht eine ausholende Handbewegung. Wenn man den alltäglichen Erfolg der Norweger ergründen möchte, sagt er, müsse man weit zurückschauen. Als Junge ist er auf Skiern zur Schule gelaufen, manchmal noch Mitte Mai. Nach seinen Hausaufgaben ging er in den Wald zum Langlauf oder zur Schanze, Skispringen war sein größtes Hobby. "An Fußball dachte noch niemand, wir wollten hinaus in den Schnee", sagt Kirsebom, aufgewachsen in Tønsberg, im Südosten Norwegens. "Das Material haben wir uns selbst gebaut, das konnte damals jedes Kind. Holz hatten wir ja genug."
Kirsebom, der 1953 nach Kanada übersiedelte, ein freundlicher Herr mit schlohweißem Haar, sitzt im Skandinavischen Zentrum in Burnaby, einer Gemeinde östlich von Vancouver. Auf 250 Quadratmetern treffen sich Schweden, Dänen, Finnen und Norweger. Sie veranstalten Ausstellungen, lesen in Bibliotheken, feiern Feste – und verfolgen mit Gästen die Olympischen Spiele. Mehr als 3000 sind vorbei kommen, darunter viel Prominenz.
Auch die Norweger haben ihren Saal, in dem sie Fotos, Urkunden, Antiquitäten verewigt haben. Und irgendwie steht dieser Treffpunkt, zwanzig Autominuten vom olympischen Trubel entfernt, symbolisch für die Rolle der Norweger bei diesen Spielen: organisiert, unaufdringlich, erfolgreich. "Alle reden über Kanadier und Amerikaner", sagt Peter Kirsebom. "Und was ist mit Norwegen?"
Achtzehn Medaillen hatten die Norweger bis Donnerstag gewonnen, jeweils sechs in Gold, Silber, Bronze. Platz vier im Medaillenspiegel für eine Nation mit nur 4,8 Millionen Einwohnern. In der olympischen Geschichte Rang drei, mit 298 Medaillen, 104 in Gold, hinter Deutschland und Russland. 99 Athleten hat Norwegen nach Vancouver entsandt, neun mehr als China.
Wie ist Norwegen zu einer Wintersport-Nation geworden? Und wie ist sie im Zeitalter von Kommerz und globaler Aufrüstung erfolgreich geblieben?
Am Anfang war der Schnee. Der Begriff "Ski" ist norwegischen Ursprungs, seit der Forscher Fridtjof Nansen Ende des 19. Jahrhunderts auf zwei Brettern durch die Eiswelt stapfte und später durch die Lüfte flog.
In fünf der ersten sechs Winterspiele, von 1924 in Chamonix bis 1952 in Oslo, führte Norwegen den Medaillenspiegel an. Der nordische Sport wuchs zu einem Kulturerbe, die Schanze am Holmenkollen zu einem nationalen Wahrzeichen. "Langlauf ist bei uns Identität stiftend wie Eishockey in Kanada", sagt der Reporter Erik Unaas. "In keinem Land ist er so im Breitensport verankert."
Drei Rennen existieren in Norwegen mit mehr als 12.000 Teilnehmern, das größte ist das über 54 Kilometer von Rena nach Lillehammer mit mehr als 15.000 Läufern. Kinder wollen bekannt werden wie Langläufer Bjørn Dæhlie, Biathlet Ole Einar Bjørndalen oder der alpine Rennläufer Aksel Lund Svindal, der dank Sponsoren umgerechnet 600.000 Euro verdienen soll und in Vancouver einen kompletten Medaillensatz gewann.
Die unerschöpfliche Breite wollen Trainer und Funktionäre zu einer erfolgreichen Spitze verdichten. Die Regierung steuert jährlich 120 Millionen Kronen bei, umgerechnet 15 Millionen Euro, gemessen an der Population eine beachtliche Summe. "Wir haben ein verlässliches Netzwerk geschaffen", sagt Tove Paule, die Präsidentin des Norwegischen Olympischen Komitees.
Verbände und Universitäten arbeiten eng zusammen und setzen sportwissenschaftliche Standards, für jedes Talent soll früh eine berufliche Zukunft gesichert werden. Ressourcen werden übergreifend genutzt, die ehemalige Handballerin Marit Breivik arbeitet in Vancouver ebenso im olympischen Trainerstab wie der einstige Radfahrer Atle Kvølsvoll. Auch dabei: Experten für Ski-Technik, Wachsen und Schleifen. Aber auch für Wetterkunde.
Im Skandinavischen Zentrum in Burnaby überschlagen sich die Stimmen und die Kuhglocken schlagen lauter, sobald norwegische Athleten ins Bild laufen. Bis zu 1,5 Millionen verfolgen die Wettbewerbe in der Heimat, ein Drittel der Bevölkerung. 540 Stunden überträgt das Staatsfernsehen auf drei Kanälen, mehr als während der Sommerspiele und der Fußball-WM.
Die Abendnachrichten schrumpfen von 45 auf zehn Minuten. "Keine Sorge", sagt Peter Tirsebom und lacht. "Etwas anderes passiert in der Welt ohnehin nicht."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind