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Winternotprogramm für ObdachloseDie Letzten bleiben draußen

Am Sonntag beginnt in Hamburg wieder das Winternotprogramm. Bleiben Obdachlose in Zeiten der Flüchtlingskrise auf der Strecke?

Soll Obdachlose vor dem Erfrieren schützen: Winternotprogramm in Hamburg. Foto: dpa

Hamburg taz | Rudi lässt sich auf den schmalen Holzstuhl im Flur fallen und atmet tief durch. Die Pause hat er sich verdient. Eben noch stand er in der Küche, hat Gemüse geschnitten, mit den Kollegen geschnackt. Jetzt friemelt der schmächtige Mann eine Zigarette aus seiner Jackentasche und schlägt die Beine übereinander. „Die Arbeit macht Spaß, nette Leute, nette Kollegen, darum geht’s doch“, raunt er leise in den Zigarettenrauch.

Rudis Arbeitsplatz ist das „Cafée mit Herz“ in St. Pauli, eine Tagesstätte für Obdachlose. Seine Kollegen sind Gäste wie er, solche, die mit anpacken, um den Betrieb am Laufen zu halten. „Sozialer Hafen“ nennen die Mitarbeiter der Tagesstätte diesen Ort zwischen Reeperbahn und Landungsbrücken.

Für Rudi, 50, trifft diese Beschreibung wohl zu. Seit Anfang des Jahres ist das Cafée mit Herz sein Fixpunkt in der Stadt, seine Tage beginnen und enden direkt hier. Morgens um halb sechs rollt er seinen Schlafsack draußen vor der Tür zusammen und kommt zur Frühschicht. Essen vorbereiten, Tisch decken, Abwasch, Mittagessen: Routine für den gelernten Koch.

Gegen 17 Uhr verlässt Rudi die Tagesstätte wieder, manchmal dreht er noch eine Runde auf dem Kiez, bis er sich zum Schlafen wieder vor die Tür legt. „Drinnen pennen geht ja nicht“, sagt Rudi, der jeden Satz mit einem Schulterzucken beendet.

Das stimmt: In der Nacht ist das Kellergewölbe des ehemaligen Hafenkrankenhauses, in dem das „Cafée mit Herz“ sitzt, geschlossen. Die Bewohner weichen auf Notunterkünfte oder eben auf die Straße aus. „Im Sommer ist das auszuhalten, je nach Witterung“, sagt Rudi. Und im Winter? Rudi schweigt, Schulterzucken.

Dann erzählt er von seiner Wohnungssuche, in zwei Tagen habe er wieder ein Gespräch mit einem Vermieter. „Vielleicht klappt‘s ja diesmal. Weiter will ich gar nicht denken“, sagt er. Dass er einen Schlafplatz beim Winternotprogramm ergattern könnte, glaubt er nicht. „Da werd‘ ich eh weggeschickt“, er klingt eher resigniert als wütend.

Wenn am 1. November das Hamburger Winternotprogramm beginnt, wird es wieder heißen, es sei das größte, das es je gab. Ein Superlativ, der bereits im letzten Jahr galt. 890 zusätzliche Schlafplätze wird die Stadt diesmal bereitstellen, im Jahr 2007 waren es noch knapp 200 Plätze. Doch der Bedarf ist da und wird seit Jahren größer, immer mehr Menschen leben ohne feste Bleibe auf Hamburgs Straßen.

Einer Schätzung der Diakonie zufolge leben derzeit etwa 2.000 Obdachlose in Hamburg. Eine Prognose für den Winter will zwar niemand abgeben, doch die sozialen Hilfsorganisationen stellen sich schon jetzt auf einen möglichen Kollaps ein. „Wenn es ein harter, kalter Winter wird, werden die Plätze definitiv nicht reichen“, sagt Dirk Hauer von der Diakonie Hamburg.

Doch nicht nur in den Notunterkünften für die Nacht könnte es eng werden. „Unsere Tagesaufenthaltsstätten sind schon außerhalb des Winternotprogramms ausgelastet“, sagt Eva Lindemann, Sprecherin von „Hoffnungsorte Hamburg“. „Bei den Einrichtungen im Innenstadtbereich erwarten wir ab jetzt einen noch stärkeren Andrang, dem wir gerade kaum gerecht werden können.“ Um das Personal aufzustocken, fehlten die finanziellen Mittel.

Auf dem Flur des „Cafées mit Herz“ ist Ruhe eingekehrt, die Warteschlange vor der Essensausgabe ist kürzer geworden, aus dem Gastraum dringt nur das leise Geräusch von klapperndem Geschirr herüber. „Wir reden hier nicht so viel miteinander, die meisten Leute verstehen eh kein Deutsch“, sagt Rudi.

Denn warum wird die Warteschlange vorm Gastraum immer länger? Warum ist in den Notunterkünften kein Platz mehr für ihn? Rudi hat die Antwort: „Die Ausländer nehmen uns die Plätze weg. Was wollen die alle hier?“

Neben Rudi am Tisch sitzt Andy, ein kräftiger Kerl mit langem Schnauzbart, tätowierten Armen und St.-Pauli-Mütze. Er hat dazu auch so einiges zu sagen. „Alles kriegen die hinterhergeschoben und am Ende meckern sie, weil ihnen das Essen hier nicht schmeckt“, er haut mit der flachen Hand auf den Tisch und nickt, als wolle er sich selbst zustimmen.

Andy kennt viele Geschichten über „die“, meistens negative, manche aus dritter Hand. Oft geht es dabei eigentlich um osteuropäische EU-Bürger, die sich schlecht benehmen, es geht um Prügeleien, Diebstahl, Undankbarkeit. Und wenn Andy so ins Reden kommt, verschwimmen Begriffe wie Migrant, Flüchtling, Ausländer meistens zu einem großen Ganzen.

Täglich neu eröffnende Flüchtlingsunterkünfte; Kleiderspenden, die ganze Messehallen in kürzester Zeit füllen: Andy und Rudi kennen die Berichte aus der Zeitung, die ankommenden Flüchtlinge und die vielen freiwilligen Helfer am Hauptbahnhof haben sie selbst gesehen. Ihre Reaktion: Unverständnis, Frust, Resignation. „Die kriegen so viel und uns gibt keiner was“, sagt Rudi. Ein Satz, der zunächst nach Neid klingen mag. Aber dann wird klar, das sich dahinter etwas anderes verbirgt: die Erfahrung des Zukurzkommens.

„Ich krieg keinen Platz zum Pennen, denn die Flüchtlinge, die Ausländer, die haben immer Vorrang“, sagt Rudi. Ausländerfeindlich sei er nicht und die Kriegsflüchtlinge, „denen es richtig dreckig geht in Syrien“, die müsse Deutschland natürlich aufnehmen, Wirtschaftsflüchtlinge sollten aber gar nicht erst einreisen dürfen. „Wie soll ich denn sonst eine Wohnung bekommen, wenn die nun alle kommen?“ In seinen trüben braunen Augen sitzt die Angst.

Margot Glunz kennt solche Diskussionen gut. Flüchtlinge seien ein Thema unter ihren Gästen, erzählt die Geschäftsführerin vom „Cafée mit Herz“. „Viele Obdachlose nehmen Flüchtlinge erst einmal als Konkurrenz wahr, in den Notunterkünften, auf dem Wohnungsmarkt und bei der Jobsuche. Da werden tiefe Ängste angesprochen. Aus der Perspektive der Menschen, die ohnehin wenig haben, ist das auch irgendwie verständlich“, sagt sie.

Menschen wie Rudi und Andy haben das Gefühl, angesichts der Flüchtlingskrise noch mehr in Vergessenheit zu geraten. Und tatsächlich ist zumindest die Spendenbereitschaft der Deutschen offenbar begrenzt. 14.000 Euro braucht Margot Glunz im Monat für ihr „Cafée mit Herz“, das sich komplett über Spenden, ohne öffentlichen Träger finanziert. Vor allem Privatleute und Unternehmen unterstützen die Tagesstätte, bisher ist die Summe immer irgendwie zusammengekommen.

Doch im September brachen plötzlich die Spendengelder weg, seither kommt kaum noch Geld an. „Ich weiß nicht, wie es nach Weihnachten weitergehen soll“, sagt Glunz. Zumal sie auf die Spendengelder im Winter angewiesen sei, um für die Sommermonate vorzusorgen, in denen traditionell weniger gespendet werde. Überrascht habe Glunz der Spendeneinbruch nicht, ein Dilemma bleibt das fehlende Geld dennoch. „Die Menschen spenden eben für die Themen, die medial präsent sind. Obdachlose fallen da leider schnell durchs Raster“, sagt sie.

Die Flüchtlingshelfer in den Hamburger Messehallen konnten sich über fehlende Spendenbereitschaft in den letzten Wochen nicht beklagen. Immer noch stapeln sich die Kartons und Kleidersäcke in den Hallen, es fehlt gerade eher an Helfern, die all die Spenden sortieren und verteilen können. Bis Ende September waren in den Hallen noch Flüchtlinge untergebracht, Andy hat inzwischen eine kleine Einzimmer-Wohnung in der Nähe.

Obdachlose helfen

Ist er selbst schon mal dort gewesen? Andy verzieht das Gesicht. „Das brauch ich nicht, ich weiß Bescheid, die hängen da nur rum“, sagt er. Er sei oft mit dem Auto vorbeigefahren. Und mal in die Halle reingehen, mit den Bewohnern sprechen? „Nee du, lass mal“, sagt Andy und zieht sich die FC-St.-Pauli-Mütze noch ein wenig tiefer ins Gesicht. Vielleicht hätte sich sein Blick nach einem Besuch verändert – so wie es ein paar Verkäufern des Straßenmagazins Hinz & Kunzt ergangen ist, die im September einen Rundgang durch die Messehallen gemacht haben. Hinz & Kunzt berichtete in seiner Oktober-Ausgabe über den Ausflug, am Ende mussten einige Verkäufer zugeben: „Schon krass, wie die da leben.“

Doch gerade die Messehallen könnte auch eine Schnittstelle zwischen Obdachlosen- und Flüchtlingshilfe werden. Die Flüchtlinge sind dort zwar weg, aber die Kleiderkammer ist noch da. Könnte die nicht auch für Obdachlose geöffnet werden? „Hier geht’s ums Miteinander, nicht um ein Gegeneinander“, sagt der 27-jährige Dominik.

Seit Wochen packt er in der Kleiderkammer mit an, acht bis zwölf Stunden, jeden Tag. „Menschen, die Platte machen, sind genauso auf Hilfe angewiesen und mit Ängsten und Vorurteilen ihrer Mitmenschen konfrontiert“, sagt Dominik. Er selbst habe schon oft auf der Straße geschlafen, gerade wohne er in einem WG-Zimmer zur Zwischenmiete.

Einen Konflikt zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen sieht Dominik nicht. „Neulich kam ein obdachloses Pärchen zu uns, denen ich Kleidung und Schlafsäcke gegeben habe. Am nächsten Tag haben die Zwei dann aus Dankbarkeit selbst in der Kleiderkammer mitgeholfen. Geben und Nehmen, so funktioniert das!“, sagt er.

Mit anderen Flüchtlingshelfern möchte er eine Kooperation zwischen Messehallen und Winternotprogramm starten, verschiedene Projekte auf den Weg bringen. Haareschneiden für Obdachlose etwa. Am Mittwochabend haben die Helfer aus den Messehallen ihre Ideen bei den städtischen Behörden vorgestellt, die sind an einer Zusammenarbeit interessiert.

Dennoch bleibt die Konkurrenzsituation zwischen Flüchtlingen und Obdachlosen bestehen. „Die Fachstellen zur Wohnungssicherung in den Bezirken sind hoffnungslos überlastet, sagt Dirk Hauer von der Diakonie.

Sie könnten keine Obdachlosen mehr unterbringen, weil freie Unterkunftsplätze zurzeit mit Flüchtlingen belegt werden. Und wenn Obdachlose sehen, dass Flüchtlinge tagsüber in ihren Unterkünften bleiben können, während sie in die Kälte geschickt werden, löse das natürlich Frust aus.

Kern des Problems

Arme und Bedürftige dürften niemals miteinander in Konkurrenz gesetzt werden, sagt Hauer. „Die Frage ist nicht: Welche Gruppe hat Vorrang? Sondern: Beide Gruppen müssen unbedingt versorgt werden. Und zwar jetzt!“ Um die Engpässe in den Notunterkünften zu schließen, müsste der eigentliche Kern des Problems angegangen werden: Die Vermittlung von Wohnraum für Wohnungslose stocke seit Jahren.

Die städtische Wohnungsbaugesellschaft SAGA GWG vermiete jährlich etwa 9.000 Wohnungen neu, wolle aber nur 1.700 an vordringlich Wohnungssuchende abgeben. Hauer: „Angesichts von 2.000 Obdachlosen und etwa 9.000 Wohnungslosen in der Stadt ein beschämend geringer Satz.“

Die Flüchtlingskrise legt die Schwachstellen des Systems der öffentlichen Unterbringung offen, meint auch Hinz & Kunzt-Verkäufer Thorsten. „Das Winternotprogramm müsste es gar nicht geben, wenn die Stadt richtige Beratungs- und Vermittlungsangebote für Obdachlose schaffen würde“, sagt . Er selbst wohnt nach Jahren auf der Straße nun zur Untermiete bei einem Bekannten.

„Die Flüchtlinge haben keine Schuld“, sagt Thorsten. „Sie sind eine Chance für uns. Sie zeigen, was mit gutem Willen und Engagement alles machbar ist in dieser Stadt.“

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