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■ Winnetou und Old Shatterhand in AmerikaKarl May = Walt Disney mit Herz?

San Francisco (dpa/afp/taz) – Schade, daß Karl May das nicht erleben kann. 75 Jahre nach seinem Tode empfangen Amerikaner seine Helden Winnetou und Old Shatterhand mit offenen Armen. Und mehr noch: Staunend erfahren sie, daß der wildeste aller Westen keineswegs auf ihrem Kontinent liegt, sondern 9.000 Kilometer entfernt im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg.

In Amerika konnten die beiden rot-weißen Blutsbrüder nie Fuß fassen. Nur drei Romane von Karl May wurden überhaupt in den USA aufgelegt und brachten es nie zu großer Leserschaft, obwohl weltweit über 80 Millionen Karl- May-Bücher in 40 Sprachen im Laufe von 100 Jahren verkauft wurden. Jetzt aber haben Winnetou und Co. auch in Amerika ihre Fan-Gemeinde – zumindest im kalifornischen San Francisco. Und das ausgerechnet im Kolumbus- Jahr, in dem die Öffentlichkeit wie nie zuvor mit der geschichtlichen Wahrheit der Ausrottung und Unterdrückung der Indianer konfrontiert worden ist und der Wildwest- Romantik Karl Mays eigentlich skeptischer denn je gegenüberstehen müßte.

Der Bürgermeister von Bad Segeberg, Jörg Nehter, und der Geschäftsführer der Karl-May-Festspiele, Ernst Reher, sind gerade zu diesem Zeitpunkt nach San Francisco gekommen, um ihre Freiluftaufführungen in den USA bekanntzumachen. „Wir wollen zeigen, daß wir nicht nur seit 42 Jahren für spannende Familienunterhaltung sorgen, sondern daß wir zugleich die Kultur der nordamerikanischen Indianer pflegen und uns ihrer Probleme überaus bewußt sind“, sagt Nehter.

Entsprechend erfahren die Teilnehmer einer Veranstaltungsreihe im Goethe-Institut von San Francisco nicht nur, daß bei den Karl- May-Festspielen pro Saison 20.000 Gewehrschüsse abgegeben, 50 Kilo Schminke verwendet und bei den wilden Ritten zahlreiche Rippen gebrochen werden. Sie hören nicht nur, daß es in Deutschland über 400 Indianer- und Cowboyklubs gibt. Sie diskutieren auch über Fragen des Umweltschutzes und die Aktivitäten des „Gesellschaft für bedrohte Völker“.

David Ramos ist ein Mescalero- Apatsche, und gemeinsam mit Stammesangehörigen schaut er sich eine Ausstellung und ein Video über die Segeberger Festspiele an. Daß die Deutschen in der Tradition der französischen Philosophen Montaigne und Rousseau schon seit dem frühen 19. Jahrhundert das Bild vom guten Indianer pflegen und mit Karl Mays Winnetou ein fiktiver Apatsche zum Symbol von Edelmut und Tapferkeit wurde, hat David Ramos nicht gewußt. Die deutschen Dialoge zwischen dem Bad Segeberger Häuptling und Old Shatterhand kann er nicht verstehen. „Aber ich spüre, daß von den Festspielen eine gute Botschaft ausgeht“, sagt der Indianer. „Ihr macht so etwas wie Walt Disney – aber mit viel mehr Herz.“

Ein größeres Kompliment können sich Nehter und Reher kaum vorstellen. Wie gut das Verhältnis zwischen Indianern und Deutschen ist, spiegelt sich auch darin wider, daß das diesjährige „American Indian Film Festival“ in San Francisco zu einem Teil im Goethe-Institut stattfindet.

Nach der Volkszählung aus dem Jahre 1990 leben in den USA nur noch 1,9 Millionen Indianer, die 542 verschiedenen Stammesgruppen angehören. Nur vier Indianervölker zählen den Angaben zufolge heute mehr als 100.000 Angehörige: die Cherokees (308.000), die Navajos (220.000), die Chippewas (104.000) und die Sioux (103.000). Schätzungen zufolge lebten vor der europäischen Kolonisierung zwischen 15 und 40 Millionen Ureinwohner auf dem Kontinent.

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