Kultur als Imageschminke etc.: Windschief
■ Antwerpen war Europas Kulturhauptstadt 1993 und bleibt dennoch provinziell
Der Jahrhundertwende-Bahnhof gegenüber der Diamantenbörse war vorsorglich rekonstruiert worden, und auch die Fußgängerzone am Meir, dem Rathaus Antwerpens, war rechtzeitig fertig geworden. Selbst an den Schelde-Quais hatten die alten Kontore einen neuen Anstrich verpaßt bekommen – nicht weiß, sondern sandfarben. Damit Besucher auf der Durchreise sich dem nahenden Meer schon mitten im Land ein bißchen näher fühlen konnten. Antwerpen 93 war nicht mehr als ein kulturtouristisches Ausflugsziel für Kaffeefahrten aus dem Rheinland; für Urlaubsbummler, die, des Strandlebens im teuren Kurbad Oostende überdrüssig, nach musealer Abwechslung suchten; oder für Künstler, die von Bart Cassiman, dem Projektleiter im Bereich Gegenwartskunst, zum kulturellen Austausch eingeladen worden waren.
Antwerpen hat sein Planziel als Metropole für Europa fast übererfüllt. In Großausstellungen wie der Jacob-Jordaens-Retrospektive oder bei „The Sublime Void“ drängelten sich die Besucherscharen dicht an dicht an den Exponaten vorbei. Die zweitägige Präsentation der Heiner Müllers „Hamlet-Maschine“ wird noch in ferner Zukunft zu den wenigen kulturellen Sensationen in der sonst eher verschlafenen Hafenstadt zählen, ebenso die Auftritte des Tanztheaters von Trisha Brown. Dennoch hing schon vor Beginn der Festivitäten der Segen über der Kulturhauptstadt im europäischen Haus 1993 ein wenig windschief. Aus den Kommunalwahlen war der ultrarechte „Vlaamske Block“ mit 25 Prozent der Stimmen deutlich als eine der treibenden Kräfte im Antwerpen der neunziger Jahre hervorgegangen.
Was unter diesen veränderten Vorzeichen im Rahmen der kulturellen Aktivitäten zu tun gewesen wäre, wurde allerdings versäumt: Während des gesamten Kulturjahres hatte sich nicht eine einzige Veranstaltung darum bemüht, den wachsenden Rechtsextremismus und die latente Ausländerfeindlichkeit im Zentrum der flämischen Region zu thematisieren. Statt dessen ließ man die schönen Künste ihren Marsch durch die städtischen Museen antreten, denn „Antwerpen 93 ist davon überzeugt, daß in diesem komplizierten Europa ein Freiraum bleiben muß für nuanciertes Denken. Für einen furchtlosen Kommentar zu den Dingen, die uns begegnen. Neue Erkenntnisse, neue Sensibilitäten sind wichtigste Voraussetzungen für eine offene, zukunftsorientierte Gesellschaft. Darum entschied sich Antwerpen 93 für die Kunst“, wie es in der Anmoderation für das Programmheft hieß.
Wohlwissend, daß solche Feste nur von kurzer Dauer sind – Glasgow ist trotz Kulturjahr eine der ärmsten Regionen Großbritanniens geblieben – wurden so behutsam wie im Werbejargon des Kulturkanals „arte“ die Vorteile der Stadt gepriesen. Es sei nur legitim, für eine Kulturhauptstadt, „einerseits mit Stolz auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurückzublicken und andererseits der Welt eine festlich geschmückte moderne Stadt vorzustellen“. Die Darstellung der Vergangenheit geriet indes zur Klage über die seit dem 17. Jahrhundert verlorene Weltvormachtstellung beim Gewürzhandel, und aus der „modernen Stadt“ wurde eine Spielwiese für postmoderne Urbanisten, die irgendwo zwischen Virilio und Baudrillard die Stadtfläche mit allerlei Zeichen überziehen durften. Am Stadswaag wurde für fünf Tage im August ein „Salon Cinéma“ auf der Straße eingerichtet, um die Bewohner des Hafenviertels aus der Abgeschlossenheit des eigenen Wohnzimmers in den öffentlichen Raum zu locken. Dort standen dann Sofas, Sitzgarnituren – und Fernsehgeräte. Der Medien- Kiez als doppelt fremdes Privatfernsehen.
Im Hessenhuis wurde Stadtgeschichte gezeigt. Dort zumindest erfuhr man, daß die Schelde nach dem Flußgott Scaldis benannt worden war, zu dem sich die Stadtgöttin Antwerpina in einer Art Gründungsakt aufs Lager gelegt hatte, damit er ihr Reichtum im Tausch zurückgäbe. Aus der Verschmelzung entstand so ein bereits im Mittelalter blühender Verkehrsknotenpunkt. Die Folge: im 17. Jahrhundert war die Stadt viermal so groß wie London. Mit dem freien Handel ging auch eine Religionsvielfalt einher, bald übernahmen die Calvinisten die Verwaltung der Stadt. Dann sprachen die Spanier ein Machtwort: Antwerpen wurde belagert und kapitulierte 1588. Den daran anknüpfenden Bruch mit Katholizismus und Protestantentum spürt man selbst im Stadtbild: Säulenheilige schauen von den Häuserfassaden der Rechtgläubigen herab, in protestantischen Vierteln hat sich der Antiquitätenhandel gehalten.
Heute geht es in Antwerpen darum, die frühere Stärke neu zu definieren und sich als die offenste aller Städte zu präsentieren. Gleichzeitig mag man diese Offenheit nur als regionale Errungenschaft zeigen. Im Bouwcentrum wurden unter dem Titel „Der panoramische Traum“ die drei Antwerpener Weltausstellungen von 1885, 94 und 1930 dokumentiert, allesamt durch Aktienanleihen finanziert und zu ihrer Zeit als eine Tat der Vaterlandsliebe propagiert.
Selbst mit den Kolonialerinnerungen ging man im Kulturjahr nicht nachdenklicher um. Eine Schau mit Masken aus dem Zairebecken im ethnographischen Museum zeugte weniger von einem Wandel im Umgang mit der ehemaligen Kolonie, sondern stellte die auf Beutezügen angehäuften Kunstschätze als Zeichen der Integrationsfähigkeit der eigenen Geschichte dar: „Die Negerkunst ist der Beweis, daß der Neger nicht ist, was doch viele hierzulande meinen, ein zurückgebliebenes, unbegabtes, minderwertiges Wesen.“ Der Satz stammt aus dem Kommentar zur Weltausstellung von 1930, auf der ein Kongo-Dorf originalgetreu nachgebaut wurde – mitsamt dort lebender Bevölkerung, die zur Unterhaltung des Publikums in einem künstlichen See nach Münzen tauchen mußten.
Ansonsten blieb das kulturelle Programm praktisch fremdvölkerfrei. Die farbige Bevölkerung erhielt keinerlei Möglichkeiten, sich als Teil des städtischen Lebens zu zeigen. Noch das bunt multikulturelle Containerschiff „Le Cargo“ wurde lediglich für Musik aus Süd-, West-, Ost- und Nord-Europa genutzt, wobei jedoch bereits in den Umbaupausen wieder die gewohnten glühend flämischen Volkslieder aus den Boxen schallten. Besenrein eurozentristisch.
Der Wille zur Repräsentation als innereuropäischer Gemeinplatz schlug sich übrigens auch in hochphilosophischen Schriften nieder: In einer Reihe von gesondert veröffentlichten Cahiers schrieben Kulturtheoretiker vom Schlage Dietmar Kampers über Themen wie „Erde und Entgrenzung“, daneben wurden von Heidegger Gedanken über die „schöpferische Landschaft“ abgedruckt: „Warum bleiben wir in der Provinz?“ Diese Frage werden die Antwerpener nach einem Jahr als Kulturhauptstadt sicherlich beantworten können. Harald Fricke
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