Wilma Johannssen übrigens: Die Boomer, die Jugend und das crazy Kopfschütteln
Dieses Geschminke, dieses Leopardenmuster und diese klobigen Winterschuhe. Dann noch so vulgäre Worte wie Fotze. Können die alle nicht mal besser ein Buch lesen? So und ähnlich klingt es, wenn sich Boomer über Jüngere aufregen. Also auch über mich, ich bin 20, und möchte euch, liebe Boomer, gern sagen, dass die klobigen Ugg Boots heißen. Ich möchte euch auch gern sagen, dass wir genauso wie ihr Bücher lesen und uns mit der Welt beschäftigen – trotz Leo, Schminke, Jugendslang, Anglizismen.
Nur weil sich junge Menschen anders kleiden und eine andere Sprache verwenden, der die Boomer nicht folgen können, Tabus brechen oder durch Glitzer und Glamour auffallen, haben sie in euren Boomer-Intellektuellenkreisen nichts zu sagen. Ein klassischer Fall von Vorurteil, Schubladendenken und Oberflächlichkeiten. Denn auch jemand mit fünf Zentimeter langen Glitzernägeln oder dem Strasssteinschriftzug „juicy“ auf dem Jeanshintern, kann Literaturwissenschaften studiert oder Karl Marx verschlungen haben. Nur am Rande bemerkt: Das hat viel mehr Feuer als so ein Deuter-Rucksack und eure orthopädischen Boomer-Sandalen. Aber das ist ja sowieso eine Geschmacksfrage.
Dabei können wir doch voneinander profitieren: Mit mehr „Rede“ (Jugendwort), Glitzer und Glamour wird es nicht nur belebter und frischer bei euch, liebe Boomer, es wird jeder Person zugehört, egal ob jung oder alt, Buch gelesen oder nicht. Und wir können uns im Gegenzug von euch zum tausendsten Mal erklären lassen, wie das damals war, als die Mauer fiel. Und das sogar mit Strasssteinnageldesign oder Handyklapphülle. Ist doch wumpe.
Wilma Johannssen ist Redakteurin beim taz-lab und studiert Politikwissenschaft in Wien.
Und auch das können Oma und Opa von uns lernen: Vulven behandeln wir im Bio-Unterricht, die hohen Umfragewerte der AfD beschreiben wir als „das crazy“ und meinen damit, dass wir uns darüber ebenso aufregen wie viele von euch. Dass die erfolgreichste deutsche Musikerin Männer auf der Bühne in Käfige sperrt, „slay“.
Ja, alles ist auf einmal anders. Das versteht ihr doch, oder? Ihr habt früher schließlich auch Häuser besetzt und euch für den Frieden lange Haare wachsen lassen. Der Spieß wird nun umgedreht: Ihr könnt jetzt einiges von uns, euren Enkel*innen, lernen. Nicht nur, wie mit der ganzen Familie auf dem Smartphone gechattet wird. Das ist ja wohl „bare minimum“.
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