Wildschweinjagd in Stahnsdorf: Der Tod kam auf dem Friedhof
Auf dem Südwestkirchhof treiben Wildschweine und Rehe ihr Unwesen zwischen Grabsteinen und Rabatten. Deswegen wird einmal im Jahr zur Jagd geblasen.
Der Schnee knirscht unter den Stiefeln. Die verdorrten Äste knacken, wenn man sie zur Seite schiebt, um sich einen Weg durch das Dickicht des Waldes zu bahnen. Sonst ist es völlig still. Keiner der 25 Männer redet. Wie an einer Perlenkette aufgereiht tasten sich die Treiber langsam durch den tiefen Pulverschnee vorwärts. Jeweils etwa 20 Meter Abstand halten sie zueinander, ihre orangefarbenen Warnwesten leuchten vor dem weißen Hintergrund der malerischen Winterlandschaft. "Reh nach links", ertönt es plötzlich, kurz darauf folgt der Schuss - auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf ist gerade ein Reh gestorben. Zwei weitere werden ihm heute noch folgen.
Einmal im Jahr wird der Friedhof zum Jagdrevier, zwischen Oktober und Februar, wenn das Jagen auf Feld, Wald und Flur Saison hat. Wo sonst Besucher unter alten Bäumen und Efeuranken die moosbewachsenen Gräber von Heinrich Zille, Friedrich Wilhelm Murnau oder Engelbert Humperdinck suchen, sind nun 15 Jäger positioniert. In Hochständen und versteckt im Gebüsch warten sie darauf, dass die Treiber ein Reh oder Wildschwein aufschrecken. Die gilt es zu erlegen, denn die Tiere "bedrohen" Natur und Gräber auf dem 100 Jahre alten Friedhof bei Potsdam. "Regelmäßig stehen ältere Herrschaften weinend bei mir in der Verwaltung und beschweren sich, dass Wildschweine die Grabstätten ihrer Angehörigen aufgewühlt haben", sagt Olaf Ihlefeldt. Seit 20 Jahren ist er Friedhofsverwalter in Stahnsdorf. "Die Ansitzdrückjagd gibt es bestimmt schon doppelt so lange."
150 Hektar groß ist der Friedhof, ein vier Kilometer langer Zaun grenzt ihn ab vom Wald und den Feldern nebenan. "Doch der Zaun ist nicht stabil genug und wird zusätzlich immer wieder durchschnitten von Tierschützern", erzählt Ihlefeldt. Die wollten nicht, dass den Tieren ein Teil ihres natürlichen Lebensraums vorenthalten werde. "Daher suhlen sich immer wieder Wildschweine zwischen historischen Grabstätten und fallen frisch angepflanzte Blumenrabatten gefräßigen Rehen zum Opfer." Einen neuen Zaun, der die Tiere endgültig vom Gelände fernhielte, hält Ihlefeldt für die beste Lösung. Doch der koste 400.000 Euro, die der Friedhof nicht habe. "Daher müssen wir einmal im Jahr Jagd auf die Tiere machen."
Schon im Sommer wirkt der Südwestkirchhof eher wie ein großer Park als wie ein Friedhof. Im Winter, wenn viele Grabstellen unter Schnee verborgen bleiben, vergisst man noch leichter, dass hier bis heute Menschen ihre letzte Ruhe finden. Erst recht, wenn man wie die Männer als Teil der Treiberkette Schritt halten muss. Immer wieder versinken sie bis zu den Knien im Schnee, bleiben an Ästen hängen, stolpern über umgestürzte Bäume. Ein Glück, wenn doch mal ein vereinzelter Grabstein aus der Schneedecke ragt, an dem man sich festhalten kann.
Michael Malson trägt eine dicke Military-Jacke unter der Warnweste und spricht mit amerikanischem Akzent. "Vor 13 Jahren bin ich aus Chicago nach Potsdam gezogen", sagt der IT-Manager. Schon zum zweiten Mal sei er als einer der Treiber auf dem Friedhof dabei, wie auch alle anderen freiwillig und ohne Bezahlung. "Als Amerikaner liegt mit die Jagd einfach im Blut."
Malson ist guter Laune. Seine Mütze hat er tief ins Gesicht gezogen, den Schal fest um den Hals gezurrt. So kann ihm der eisige Wind, der die pulvrigen Schneeflocken vor sich hertreibt, nicht viel anhaben. "Wir brauchen keine Tröten oder Stöcke. Allein durch das Knirschen des Schnees und das Knacken der Äste schrecken wir das Wild auf", erklärt er. Angst vor Wildschweinattacken habe er nicht. "Die Tiere fürchten sich mehr vor uns als wir vor ihnen." Auch um die Vorbehalte gegenüber der Jagd wisse er wohl. "Aber wenn die Tierschützer einmal die Verwüstungen sehen würden, die die Schweine hier auf dem Friedhof anrichten, würden sie sicher auch anders denken."
Nach einer Stunde sind die Treiber an der nördlichen Grenze des Friedhofs angekommen. Ein großer Teil des riesigen Areals muss noch abgelaufen werden; dennoch nimmt sich Jagdleiter Hans Diwiczek Zeit für eine Lagebesprechung. 84 Jahre alt ist er, und mit seinen lodengrünen Hosen und dem alten Hut ein Jäger aus dem Bilderbuch. Dazu passend auch seine Wortwahl, wenn er sagt: "Zwei Rehe haben wir bislang gestreckt, nun will ich Schwarzkittel sehen."
Doch die Wildschweine haben offensichtlich Besseres vor, als sich auf einem Friedhof erledigen zu lassen. Bis zum Mittag erwischt es lediglich zwei von ihnen sowie ein weiteres Reh und einen eigentlich unbeteiligten Fuchs. "Ein bahnbrechender Erfolg war das nicht", findet Ihlefeldt. Andererseits: Im vergangenen Jahr wurde nur ein einziges Wildschwein geschossen. Die Frage, ob man die Steigerung der Fangquote um 100 Prozent positiv findet oder nicht, soll an dieser Stelle lieber nicht entschieden werden.
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