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Wildern an der Peripherie

Sowohl Chirac als auch Jospin versuchen ihren Konkurrenten am jeweiligen Rand Wähler abspenstig zu machen

aus Paris DOROTHEA HAHN

So viele Kandidaten gab es noch nie: 16. Entsprechend konfus ist in Frankreich das Panorama zwei Tage vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen. Die Umfrageinstitute gehen davon aus, dass es bei der Stichwahl am 5. Mai zu einer Wiederholung des Duells von 1995 kommt. Damals gewann der Neogaullist Jacques Chirac gegen den Sozialdemokraten Lionel Jospin. Inzwischen haben die beiden Männer, der eine als Präsident, der andere als Premierminister, fünf Jahre lang die Geschäfte des Landes geführt. Es war die längste Kohabitation der französischen Geschichte.

Die einvernehmliche Zusammenarbeit an der Spitze – ein System, das Politologen für schlecht halten, viele Franzosen jedoch schätzen –, hat zu der Konfusion beigetragen. Viele Wähler erkennen heute keinen Unterschied zwischen den beiden Staatsmännern. Selbst der Arbeitgeberverband erklärte, dass ihm der eine wie der andere als Präsident recht wäre. Die Gewerkschaft CGT hingegen, die lange „Transmissionsriemen“ der seit fünf Jahren mit Jospin regierenden KP war, kritisierte den sozialdemokratischen Kandidaten offen.

Auch der Wahlkampf, in dem der Sozialdemokrat betonte, sein Programm sei eines der Mitte, und der Neogaullist wie üblich mit sozialem Touch argumentierte, hat wenig zur Klärung beigetragen. Beide Männer erklären die „innere Sicherheit“ zum Hauptthema, beide schlagen ein härteres Vorgehen gegen Straftäter vor. Beide wollen die Steuern senken, Jospin die Wohnungssteuer, Chirac die Einkommenssteuer. Beide wollen die Lebensarbeitszeit verlängern. Und beide propagieren mit unterschiedlichen Begriffen eine Teilprivatisierung der Rentenversorgung. Dass beide von derselben utopischen Wirtschaftswachstumszahl von drei Prozent ausgehen, versteht sich von selbst.

Von den Themen, die in der auslaufenden Amtsperiode die französischen Gemüter bewegt haben, reden die beiden Männer kaum: die 35-Stunden-Woche und die damit einhergehende Einführung einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes; die Massenentlassungen bei großen Konzernen, die ihre Betriebsstätten in Billiglohnländer verlagerten; die halbherzige Legalisierung der Papierlosen, bei der die Hälfte der Antragssteller abgewiesen und zurück in die Klandestinität geschickt wurde; die Globalisierungsdebatte und die Einführung des Euro – all das sind verminte Terrains, auf denen Chirac und Jospin keine stolze Bilanz vorweisen können.

Die Ideen kommen von den Rändern, wo es dieses Mal nur so von Kandidaten wimmelt – von drei Trotzkisten über zwei Öko-Politiker, einen Kommunisten, einen Linksnationalisten, eine Radikalsozialistin, die als Nachfahrin einst nach Guyana verschleppter Sklaven zugleich die erste schwarze Präsidentschaftskandidatin Frankreichs ist, drei Rechtsliberale, einen Jäger bis hin zu zwei konkurrierenden Rechtsextremen. Doch in einem Wahlkampf, den die Medien früh auf die „Großen“ zuspitzten, hatten die „Kleinen“ nur dann Gelegenheit, vor einem großen Fernsehpublikum zu sprechen, wenn die Umfrageinstitute wieder einmal eine „Überraschung“ entdeckt hatten. Die Trotzkistin Arlette Laguiller, die zum fünften Mal kandidiert, ist der Liebling der Medien. Laguiller hat in den letzten Wochen vielfach in griffigen Formeln die Verstaatlichung von Unternehmen und das Verbot von Entlassungen verlangt.

Die Intellektuellen, die bei früheren Wahlgängen stets für die Sozialisten Partei ergriffen, hielten sich dieses Mal demonstrativ zurück. Die „moralische Linke“ ist von der Politik der rot-rosa-grünen Regierung und damit von Jospin enttäuscht. Im Gegensatz zu den Demoskopen sind sich die beiden Staatsmänner, Chirac und Jospin, ihres Sieges im ersten Wahlgang offenbar nicht so sicher. Schon vor Wochen begannen beide mit dem Versuch, den vielen Konkurrenten an ihren jeweiligen Rändern die Stimmen streitig zu machen.

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