Wilder Streik in der Sozialarbeit: „Das ganze System fährt an die Wand“
Der Sozialbereich leidet besonders stark unter dem Kürzungsdruck. Für kommenden Donnerstag rufen die Beschäftigten freier Träger zum Streik auf.
taz: Frida Sommer, Karl Fröhlich, Sie rufen am kommenden Donnerstag die Beschäftigten freier Träger zu einem „wilden Streik“ auf. Sie und ihre Kolleg:innen wollen sich krankschreiben lassen und maskiert auf die Straße gehen. Was ist der Anlass?
Frida Sommer: An dem Tag verabschiedet das Abgeordnetenhaus den Sparhaushalt. Gerade wir Beschäftigte der freien Träger waren in den letzten Jahren massiv von Kürzungen betroffen. Es ist wichtig, dass die Angebote der freien Träger, die es gibt, mit besseren Arbeitsbedingungen weiterlaufen und nicht gekürzt werden. Im Endeffekt geht es uns darum, dass der Staat wieder seine elementarste Aufgabe ernst nimmt: eine sichere Daseinsvorsorge für die Menschen zu gewährleisten.
taz: Wie ist zurzeit die Situation in Ihrer Branche?
Karl Fröhlich: Wir merken eine Zuspitzung der Probleme. Die Arbeit wird härter dadurch, dass Angebote wegfallen oder Hilfen nicht ausreichend ausfinanziert sind. Ich habe in der offenen Sozialberatung häufig damit zu tun, dass Menschen, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf Hilfsleistungen haben, diese gar nicht erfüllt bekommen.
Karl Fröhlich, heißt eigentlich anders, aber möchte aus Angst vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Arbeitet in der projektfinanzierten Sozialberatung bei einem kleinen Träger.
Frida Sommer, heißt ebenfalls anders und ist als Sozialarbeiterin im Antigewaltbereich tätig.
taz: Können Sie ein Beispiel aus Ihrem Arbeitsalltag nennen?
Sommer: Bei mir kommen junge Frauen in die Beratungsstelle, die akut von Gewalt betroffen sind, für die wir aber keine Frauenhausplätze mehr finden. Ich habe junge Menschen in der Beratung, die aufgrund der erlebten sexualisierten Gewalt suizidal sind und nicht die notwendige Unterstützung bekommen. Das ganze System fährt an die Wand und wir müssen das tagtäglich mit anschauen.
Fröhlich: Ich habe einen Mann aus Neukölln um die 40 in der Beratung, der eine seelische Behinderung hat und verschiedene körperliche Einschränkungen. Er versucht seit vielen Jahren, Eingliederungshilfe zu bekommen, und ist immer gescheitert, auch aufgrund seiner psychischen Erkrankung. Für den wäre es super wichtig, eine Begleitung zu bekommen, damit er seine Wohnung halten kann, er nicht obdachlos wird und damit er auch seine gesundheitlichen Themen angehen kann.
taz: In den Haushaltsverhandlungen konnten viele kürzungsbedrohte Projekte gerettet werden. Sind Sie erleichtert?
Fröhlich: Es ist eine große Unsicherheit, dieses ganze Hin und Her. Da werden Kürzungen gemacht und dann wieder zurückgezogen. Oft geht die Finanzierung ohnehin nur für ein Jahr. Da bist du ein halbes Jahr damit beschäftigt, das Projekt aufzubauen, Leute einzuarbeiten, und dann kannst du eigentlich schon in die Abwicklung gehen. Du musst schließlich alles nachweisen, was du gemacht hast. Ich habe Kolleg:innen, die jetzt noch nicht wissen, ob ihr Projekt im nächsten Jahr noch weiter finanziert wird. Das ist für die eine totale Belastung. Sie fragen sich, ob sie jetzt schon kündigen sollen oder lieber noch weiter hoffen?
Sommer: Deshalb fordern wir eine längerfristige Finanzierung von Projekten. Jedes Jahr Projekte, die seit Jahren bestehen, wieder neu beantragen zu müssen, frisst Kapazitäten. Es macht einfach keinen Sinn, dass wir keine Verlässlichkeit haben. Das macht die Planbarkeit total schwierig. Wir haben das Gefühl, wir müssen darum betteln, dass wir überhaupt unsere Arbeit machen dürfen.
taz: Sie haben die Aktion „Sickout statt Burnout“ genannt. Eine Anspielung auf die psychische Belastung des Jobs?
Sommer: Ich war diesen Sommer kurz vorm Burnout. Ich habe gemerkt, mir fehlen die Mittel, um die Hilfe zu leisten, die meine Klient:innen eigentlich bräuchten. Ich habe mich so ohnmächtig gefühlt und das macht krank. So geht es vielen Kolleg:innen. Es gibt eine sehr hohe Fluktuation in den Teams, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist, dass es nicht mehr auszuhalten ist.
Die Initiative Sick out statt Burnout ist ein selbstorganisierter Zusammenschluss Beschäftigter freier Träger. Der Streik am 18. Dezember ist die erste Aktion der Initiative.
Die Demo Die Initiative will einen eigenen Block auf der Streikkundgebung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vor dem Abgeordnetenhaus bilden. Treffpunkt ist morgens 9 Uhr am Leipziger Platz.
taz: Ein wilder Streik, also ein Streik, der ohne gewerkschaftliche Beteiligung stattfindet, ist besonders in Deutschland ungewöhnlich. Warum habt ihr diese Aktionsform gewählt?
Sommer: Wir haben alles Mögliche versucht. Wir haben gefühlt tausendmal vorm Roten Rathaus protestiert, haben Brandbriefe geschrieben. Jetzt sehen wir keine andere Möglichkeit mehr, außer klar zu machen, dass wir unter diesen Bedingungen nicht mehr weiterarbeiten können. Dafür ist eine Arbeitsniederlegung das deutlichste Mittel.
Fröhlich: Es gibt für uns kaum Möglichkeiten, einen gewerkschaftlichen Streik zu organisieren, weil die Tarifbindung in dem Bereich oft gar nicht gegeben ist.
taz: Und warum streikt ihr nicht bei euren Arbeitgebern, den freien Trägern, für einen Tarifvertrag? Das wäre ja der legale Weg.
Sommer: Die freien Träger sind zum Teil sehr klein. Bei 10 Mitarbeitenden ist eine gewerkschaftliche Organisierung schwierig. Und unser Protest richtet sich ja nicht direkt gegen unsere Arbeitgeber:innen, sondern gegen den Senat, weil wir eine stabile Ausfinanzierung der freien Projekte fordern.
Fröhlich: Unsere Arbeitsbedingungen hängen natürlich von den Arbeitgeber:innen ab, aber auch von deren Verträgen mit dem Land Berlin. Es ist dieses sozialrechtliche Dreiecksverhältnis, was ein Teil des Problems ist. Die öffentliche Seite will in diesen Vertragsverhandlungen natürlich sparen. Und davon hängt ab, wie viele Stellen und welche Einrichtungen finanziert werden.
taz: Stichwort sparen: Der Senat verweist ja gerne darauf, dass einfach kein Geld da sei. Wenn Geld für soziale Arbeit erstreikt wird, fehlt es dann nicht anderswo?
Sommer: Wir sind keine Finanzexperten. Aber wir sehen, dass über Nacht Milliarden für Rüstungsausgaben bewilligt werden können. Laut einem vor kurzem veröffentlichten Bericht des Justice Collectives gibt es in Berlin mehr Polizist:innen pro Kopf als in New York. Es ist absurd. Deshalb sehen wir es nicht ein, wieso dann kein Cent für die soziale Infrastruktur ausgegeben werden kann?
taz: Ihr schließt euch dem Streik der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die für Lohnsteigerungen im Tarifvertrag der Länder (TV-L) kämpfen. Warum wartet ihr nicht den Tarifabschluss ab? Die Bezahlung der Beschäftigten bei den freien Trägern orientiert sich doch am TV-L.
Sommer: Wir verdienen im Schnitt 15 bis 20 Prozent weniger als unsere Kolleg:innen im öffentlichen Dienst und erhalten keine Hauptstadtzulage…
taz: Einen monatlichen Bonus von 150 Euro, den der Senat eigentlich den Beschäftigten der freien Träger zugesagt hat, aber denn wieder zurückgenommen hat.
Sommer: Genau. Wir fordern eine Gleichbehandlung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und bei freien Trägern. Aber wir wollen uns mit den Kolleg:innen zusammenschließen. Uns geht nicht nur um die Bezahlung, sondern auch, um die Bedingungen unter denen wir arbeiten.
taz: Wilde Streiks können in Deutschland arbeitsrechtliche Konsequenzen zur Folge haben. Habt ihr da keine Angst vor?
Fröhlich: Darüber haben wir uns natürlich Gedanken gemacht. Wir rufen alle Kolleg:innen dazu auf, sich krankschreiben zu lassen. Auf der Streikdemo werden wir rote Masken und Sonnenbrillen tragen, um nicht direkt erkannt werden zu können. Wir wollen die Aktion nur durchführen, wenn wir mindestens 100 Kolleg:innen werden. Dafür sammeln wir gerade Streikversprechen. Wir hoffen, dass sich noch viele mehr anschließen werden. Denn bei 100.000 Beschäftigten in freien Trägern und der aktuellen Situation, geht da sicher noch viel mehr. Abgesehen davon gehen wir davon aus, dass unsere einzelnen Geschäftsleitungen von arbeitsrechtlichen Konsequenzen absehen. Wir streiken ja für eine bessere Ausfinanzierung unserer Träger.
taz: Wird der Streik bei einer einmaligen, eher symbolischen Aktion bleiben oder wäre auch ein längerer Arbeitskampf vorstellbar?
Fröhlich: Ich glaube, es ist jetzt unser erster Stärketest. Wir werden schauen, wie viele Kolleg:innen bereit sind zu streiken. Es wird bestimmt nicht unser letzter Protest sein. Es wird noch weitere Tarifauseinandersetzungen während der TVL-Verhandlungen geben und nächstes Jahr sind auch noch Wahlen in Berlin.
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