: Wilde Spekulationen
■ Betr.: "Massensterben nach Tschernobyl-GAU", taz vom 23.4.92
betr.: Massensterben nach Tschernobyl-GAU“,
taz vom 23.4.92
Die Aufarbeitung der Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl ist für die künftige friedliche Nutzung der Kernenergie wichtig und notwendig. Sie sollte mit Verstand und Fachkompetenz betrieben werden, um erfolgreich zu sein. Ob sie allerdings eines Wladimir Tschernousenkos bedarf, ist nach dem Beitrag in Ihrer Zeitung mehr als zu bezweifeln.
Daß die russischen Reaktoren des Tschernobyl-Typs ein Sicherheitsrisiko darstellen und schnellstmöglich abgeschaltet werden müssen, ist unumstritten. Hier jedoch eine Verbindungslinie zu Sicherheitsstandards westlicher, insbesondere deutscher Kraftwerke herzustellen, würde heißen, die lange Erfahrung deutscher Wissenschaftler und Techniker auf dem Gebiet der Kerntechnik und die ausgezeichneten Betriebsergebnisse der Kernkraftwerke völlig zu verkennen. Die politische, ökonomische und technische Entwicklung in Deutschland erlaubt es, Kernkraftwerke auf weltweit höchstem Sicherheitsniveau verantwortbar zu betreiben. Voraussetzungen, die in der ehemaligen Sowjetunion nicht gegeben waren und einen wesentlichen Grund für die Reaktorkatastrophe darstellen.
W.Tschernousenko lanciert seit zirka einem Jahr wilde Spekulationen über die Folgen von Tschernobyl in die Öffentlichkeit. In Ihrem Artikel wird er beispielsweise mit der Behauptung zitiert, er habe den zerstörten Reaktor vom Hubschrauber aus gesehen: „Der Topf war leer und sein Inhalt bereits über der Welt verteilt.“ Das würde demnach eine Freisetzung von zirka 200 Tonnen Kernbrennstoff bedeutet haben. Nach Messungen vor Ort und im Ausland (vor allem Schweden) ist dies jedoch völlig unmöglich. Realistisch ist eine Freisetzung von drei bis vier Prozent Brennstoff. Die Äußerungen des W.Tschernousenko sind unwissenschaftlich und machen ihn unglaubwürdig. Darüber hinaus sind falsche Angaben über seine früheren Tätigkeiten im Umlauf. Tschernousenko ist Plasmaphysiker und besitzt keine wissenschaftliche Qualifikation, sich zu Fragen des Strahlenschutzes, Reaktortechnik oder gar der Reaktorsicherheit kompetent zu äußern. Er war 1986 nur etwa drei Monate lang an den Aufräumarbeiten in Tschernobyl beteiligt und dort weder wissenschaftlich noch in verantwortlicher Position tätig.
Es ist erstaunlich, daß Wladimir Tschernosenko gerade in Deutschland immer wieder als „Experte“ hofiert wird und seine Äußerungen meist unkritisiert verbreiten darf. Offensichtlich wird den Auguren des atomaren Untergangs unreflektiert Gehör geschenkt und Herr Tschernousenko weiß dies weidlich auszunutzen. Michael Brinkert, Deutsches Atomforum e.V., Bonn
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