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Archiv-Artikel

Wild denken ohne Grenzen

Das Zerfasern der Welt: William Gaddis’ letztes und kürzestes Werk „Das mechanische Klavier“

von SEBASTIAN DOMSCH

Mit „Das mechanische Klavier“, einem Kurzroman von etwas mehr als hundert Seiten, erscheint fünf Jahre nach dem Tod von William Gaddis dessen letztes Werk auf Deutsch. Die für Gaddis erstaunliche Kürze des Texts lässt ihn zuerst einmal leichter zugänglich erscheinen als die früheren Werke. Denn in den vier Jahrzehnten seiner Schriftstellerkarriere hat Gaddis nur vier Romane geschrieben, die dafür an labyrinthischer Komplexität ihresgleichen suchen. Stets erzählte er mit ungebremster Beharrlichkeit, die das Durchhaltevermögen seiner Leser nicht selten überstrapazierte. Jonathan Franzen, selbst kein literarischer Miniaturist, hat ihm in einem Essay ein Denkmal als „Mr. Difficult“ gesetzt. Diesen Titel verdiente sich Gaddis vor allem durch das 1955 erschienene, ebenso furiose wie unbeachtete Debüt „Die Fälschung der Welt“, ein enzyklopädisches Verwirrspiel von geradezu bedrohlichem Ausmaß. Bereits dieses eine Buch schuf eine kleine, verschworene Gaddis-Kultgemeinde. Zum Kreis der happy few durfte sich zählen, wer das Werk ganz gelesen hatte. Eine breitere Leserschaft gab es nicht, daran änderte auch der ausschließlich in Dialogen geschriebene Roman „JR“ von 1975 nichts, in dem Gaddis den Kapitalismus seziert. Erst mit den ebenfalls in großen Abständen veröffentlichten Romanen „Die Erlöser“ (1985) und „Letzte Instanz“ (1994), die sich auf gewohnt satirische Weise mit Religion beziehungsweise dem amerikanischen Rechtswesen befassten, setzte sich Gaddis im Bewusstsein des lesenden Publikums durch.

Nach einem leichter zu bewältigenden Einstiegsbuch in der Art von „Die Versteigerung von No. 49“ des ähnlich unzugänglichen Thomas Pynchon suchte man bei Gaddis bisher vergeblich. „Das mechanische Klavier“ bietet sich für einen solchen Zweck durchaus an, doch sollte man gewarnt sein: Wie eine fraktale Grafik wird dieser äußerst dichte Text immer komplexer und vertrackter, je tiefer man in ihn einsteigt, bis man am Ende im Meer der Bedeutungen untergeht. Das hat Methode, denn Gaddis stellt hier meisterhaft das Zerfasern der Welt im Denken eines Menschen dar. „Das mechanische Klavier“ ist der innere Monolog eines Mannes, der seinem Kampf mit einer tödlichen Krankheit ein letztes Werk über die Mechanisierung der Künste und speziell über das mechanische Klavier abringen will.

Groß ist daher die Versuchung, den Erzähler mit dem Autor zu identifizieren, denn Gaddis schrieb diesen Text, während ihn selbst der Krebs umbrachte. Seine Faszination für das Motiv des mechanischen Klaviers ist wohlbekannt, bereits sein erster veröffentlichter Zeitungsartikel aus dem Jahr 1951 handelte davon, und in seinem Erstlingsroman kündigt eine Figur die Veröffentlichung eines epochalen Werkes über dieses Thema an. Die Annahme liegt auf der Hand, dass Gaddis nun sein eigenes Scheitern dokumentiert, das geplante Werk in der gewohnt monumentalen Form zu vollenden. Doch jede einfache biografische Interpretation muss unweigerlich am postmodernen Verwirrspiel scheitern, dessen Meister Gaddis ist.

Die posthume Veröffentlichung und die fragmentarische Anlage des Texts sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einem fertigen und genau konstruierten Roman zu tun hat. Literarisches Vorbild, darauf weist der Erzähler von Anfang an hin, sind vor allem die grantigen Monologe Thomas Bernhards. Von Bernhard fühlt sich der Erzähler, wie er sagt, vorausgreifend plagiiert. Dieser Erzähler, oder besser gesagt: die Stimme, deren absatzlosem Redestrom wir lauschen, ist ein alter Mann, dessen kranker Körper ihm in den Tod vorauseilt und der Jahrzehnte damit verbracht hat, für sein Buch zu recherchieren. Jetzt stapeln sich in seinem Krankenzimmer Bücher, Notizen und Exzerpte. Die Unordnung um ihn herum ist jedoch unbedeutend, verglichen mit dem Chaos seines Denkens.

Während sich sein Geist und sein Körper auflösen, klammert er sich verbissen an die Hoffnung, doch noch so etwas wie Sinn und Bedeutung produzieren zu können. Also breitet er in einem letzten sprachlichen Aufbäumen sein angesammeltes Wissen aus, wirft mit Zitaten und Anspielungen im Sekundentakt um sich, springt wild assoziativ von Platos Staatsutopie zum Internet und wieder zurück zu Norbert Wiener und Blaise Pascal. Sein Denken kennt keine Grenzen, sein Wissen kein Ende, aber auch keine Ordnung. Einzig das Kuriosum des mechanischen Klaviers, das seine größte Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts hatte, bildet einen immer wieder aufgegriffenen Mittelpunkt des Monologs. Es wird zum Symbol einer Entwicklung, in der die Künste zunehmend unter den Einfluss der Technik geraten und degenerieren, sowie zum Ausgangspunkt einer Denkungsart, die in der Vorherrschaft des binären Codes im Computerzeitalter gipfelt.

Damit durchläuft Gaddis auf komprimiertem Raum noch einmal die gesamte Entwicklung seines Denkens und seiner Zeit, und auch wenn das schmale Bändchen dadurch eine ungeheure Dichte bekommt, bleibt es erstaunlich gut lesbar. Gaddis fügt seiner Erzählwelt in „Das mechanische Klavier“ zwar nichts Wesentliches mehr hinzu, dafür ist es ein wenn auch ironisch resignierendes Resümee seines lebenslangen Ringens um Literatur, Kunst, Wahrheit und letztlich das Leben selbst. Das Fragmentarische, das Ungeordnete, in Auflösung begriffene wird damit zum Ausdruck eines notwendigen Scheiterns. Gaddis hat sein lange angekündigtes Großwerk über die Mechanisierung und Digitalisierung der Künste geschrieben, indem er es nicht zu Ende brachte.

William Gaddis: „Das mechanische Klavier“. Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay, Manhattan Verlag, München 2003, 120 S., 16 €