Wiktor (55):
„Was haben Sie für einen feschen Hut!“, rufe ich aus, als ich Wiktor im Tunnel von Stadtmitte sitzen sehe. Es ist ein brauner Strohhut, der dem Gesicht des alten Mannes etwas Verwegenes und zugleich Rührendes verleiht. Verlegen wehrt er die Unterstellung eines Verschönerungsversuchs ab. „Ach, er schützt mich bloß bei Kälte und bei Sonne. Ist ein guter Hut“, sagt er und streichelt ihn wie einen folgsamen Hund. Dann beginnt er wieder auf seinem Akkordeon zu spielen, und obwohl Wiktor aus Kasachstan kommt, sind es französische Lieder, die er meisterhaft interpretiert. Der Hall des langen U-Bahntunnels in Stadtmitte schwappt den Takt hin und her. Wiktors Spiel klingt dennoch souverän und zupackend. Er horcht dabei in die Luft wie ein alter Safeknacker, der siegesgewiss auf das Klicken des Zahlencodes lauscht. Der Blick vieler Leute bleibt an ihm hängen. In Wiktors schwarzem Geldhut klimpert es oft. „Die Berliner sind nette Leute, und alles ist hier ordentlich und sauber“, meint er. „Ich spiele am liebsten hier in Stadtmitte. Durch den langen Tunnel haben die Menschen viel Zeit, schon von weitem meine Musik zu hören. Das ist fast wie ein winziges Konzert. Auch finde ich es interessant, mich mit Berlinern zu unterhalten und von deren Leben zu erfahren.“ Ich bin erstaunt, denn Wiktor spricht plötzlich deutsch. „Das kann ich noch aus meiner Schulzeit“, behauptet er. Mich interessiert, ob er schon Kontakte zu Deutschen gefunden hat. Er lächelt verlegen und schaut in die Luft: „Manchmal.“ Dann wechselt er das Thema. „Ich war Lehrer für russische Sprache und Literatur, doch fast die Hälfte der Schulen bei uns in Kasachstan wurden geschlossen. Viele Nationalitäten lebten vor der Perestroika zusammen. Jetzt gingen fast alle zurück in ihr Land. Diese Einzelverländerung zerbricht alles. So wurden auch die Kinder in Kasachstan weniger und damit die Schulen. Ich wurde arbeitslos. Doch ich muss meine Familie ernähren, drei Töchter und eine Frau.“ Er zieht ein Foto seiner Familie aus der Jackentasche und zeigt stolz darauf: „Ich bin ein reicher Mensch, nur Geld habe ich nicht.“
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