: Wiedervereinigung bleibt Wunsch
■ Kein Wiedersehen zwischen Nord und Süd am koreanischen Nationalfeiertag / Verletzte bei Protesten südkoreanischer Studenten / Die Regierungen hatten für den 15. August Grenzöffnung angesagt
Aus Tokio Georg Blume
Unter dem Tempelhügel im Westen von Seoul glich die Yonsei -Universität einer riesigen Kultstätte. Nicht die üblichen hundert, gleich zehntausend Studenten hatten sich in der Nacht zum Mittwoch dort zusammengefunden, um sich noch im Morgengrauen auf den Weg in den Norden zu machen. Eine Nacht lang rührten sie dafür die Trommeln. Doch der erträumte Pilgerzug für die Wiedervereinigung endete im Tränengas. Wie üblich blockierten Sicherheitskräfte die Universität. Wie üblich kam es zur Straßenschlacht mit vielen Verletzten. In der entmilitarisierten Zone am Grenzort Panmunjon forderten tausend Personen bei einer von Nordkorea geförderten Kundgebung neben der Wiedervereinigung den Abzug der amerikanischen Soldaten aus Südkorea. Der gestrige 15. August, 45. Jahrestag der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft, brachte für die Koreaner nichts neues.
Dabei hatten viele schon gestern auf eine Wende im Schicksal des geteilten Volkes gehofft, nachdem erst Nordkorea, dann Südkorea Vorschläge zur Öffnung der Grenze am 15. August unterbreitet hatten. 60.000 Südkoreaner standen in den vergangenen Tagen Schlange, als die südkoreanische Regierung bereits Anträge für die Reise in den Norden entgegennahm. „Dafür“, sagte Oppositionsführer Kim Dae Jung am Mittwoch in Seoul, „müßte sich unser Präsident Roh jetzt öffentlich entschuldigen.“ Tatsächlich scheint es, als trieben die Regierungen in Seoul und Pjöngyang mit den Wiedersehenswünschen ihrer Bevölkerung leichtes Spiel. An ernsthaften Verhandlungen zeigten beide Seiten schließlich kein Interesse.
Politische Vorwände gibt es im Süden wie im Norden genug. Der Norden beklagt, daß die Behörden des Südens keine freien Gespräche zwischen Nordkoreanern und Regimekritikern aus Seoul zulassen. Der Süden beklagt, daß die Machthaber im Norden nur einseitige politische Gespräche genehmigen.
Auch das demokratische Seoul ist noch in den Widersprüchen der alten Konfrontationspolitik mit dem Norden gefangen. Trotz des erklärten Wunsch Rohs, Begegnungen mit dem Norden zu ermöglichen, steht nach südkoreanischem Gesetz weiterhin die Todesstrafe aus, wenn Südländer unbefugt über die Grenze zum Norden treten. Und die Militärs in Seoul achten darauf, daß an solchen Bestimmungen festgehalten wird.
In seiner programmatischen Ansprache zum Nationalfeiertag kalkuliert Präsident Roh denn auch lieber mit „den nächsten vier bis fünf Jahren, die entscheidende Veränderungen in Richtung der Wiedervereinigung mit sich bringen werden“, als daß er konkrete Schritte für die kommenden Verhandlungen aufzeigen würde. „Ein fallendes Blatt sagt uns, daß der Herbst naht“, poetisierte Roh gestern in Seoul. Er scheint auf den Tod des greisen Kim Il Songs zu warten, der so sicher fallen wird, wie das Laub im Herbst. Damit entledigt sie sich freilich auch aller Ansprüche, die eine flexible Wiedervereinigungsdiplomatie an sie kurzfristig stellen würde. Schon sinken die Erwartungen an das „historische“ Treffen der Regierungschefs von Nord- und Südkorea, das beide Seiten für September vereinbart haben.
„Substantielle Fortschritte“ erhoffe er sich von diesem Treffen, beteuerte jedoch Roh Tae Woo. Auch schlug er vor, daß beide Länder ständige Missionen austauschen, so wie einst Bonn und Ost-Berlin. Er stellte weiterhin die Unterzeichnung eines Nichtangriffspakt mit Nordkorea in Aussicht. Südkorea sei bereit „über alle politischen und militärischen Themen zu sprechen“. Schließlich forderte Roh: „Freie Reisen zwischen Nord und Süd sind ein unabdingbarer Schritt zur Wiedervereinigung.“ Die völlig gleichlautende Parole hatten noch am Morgen die Stundenten auf ihren Plakaten getragen. Viele Südkoreaner, so schien es gestern, fühlten sich betrogen und hörten nicht mehr hin.
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