: Wieder ein Jüdisches Gymnasium in Berlin
Szenen eines außergewöhnlichen ersten Schultags: 24 Kinder lernen seit gestern in dem Jüdischen Gymnasium in Mitte / 1942 wurden alle jüdischen Schulen von den Nazis verboten ■ Von Severin Weiland
Sie sind die Stars an diesem Vormittag. Keinen Schritt können sie unternehmen, ohne daß ihnen Kamerateams, Fotografen und Journalisten hinterhereilen. Schon auf der Treppe des Jüdischen Gymnasiums werden sie mit Fragen bedrängt. Ein wenig verschämt drücken sie sich beim anschließenden Empfang in der Großen Aula am Buffet entlang, tuscheln miteinander und lachen. Und während die anwesende Prominenz gestern das historische Ereignis würdigte, wirkten die 24 Mädchen und Jungen, die als erste Schüler in Deutschland nach über fünfzig Jahren wieder auf eine weiterführende jüdische Schule gehen, entspannt.
Auch als Jerzy Kanal, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, daran erinnert, daß 1942 alle jüdischen Schulen von den Nazis geschlossen wurden, und mahnt, die Geschichte „nicht zu vergessen, zu verdrängen und zu leugnen“, hören sie kaum hin. Lieber naschen sie an den Keksen und verhalten sich in diesem Moment nicht anders als gleichaltrige Schüler an staatlichen Schulen.
Sie sind die Nachgeborenen einer Generation, die den Holocaust nur vom Hörensagen kennen. Um so verkrampfter wirken die Fragen der Reporter, die immer und immer wieder deutsche Ursachenforschung betreiben. Warum sie gerade an diese Schule gingen, ob das mit dem wachsenden Antisemitismus im Lande zu tun habe? Nein, nein ist überall zu hören. Die dreizehnjährige Victoria Busse, deren Mutter Israelin ist, findet die Frage, ob sie sich als Jüdin fühle, „wirklich sehr, sehr schwierig“. Sie esse Schweinefleisch, halte sich nicht an die festen Glaubensregeln, gibt sie zu bedenken. Auf der Schule sei sie, weil „sie klein und überschaubar ist und weil ich Hebräisch lernen will“.
Ein großer Teil der 24 Kinder (davon rund ein Drittel Nichtjuden), die gestern ihren ersten Schultag im Gebäude an der Großen Hamburger Straße antraten, kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Eltern erhoffen sich, daß sie an der Schule wieder an jüdische Traditionen anknüpfen können. So etwa Ludmila Ksenskaja, eine Diplom-Mathematikerin aus der Ukraine. Ihre Tochter Julia, die wie die Mehrheit der Kinder schon an der Jüdischen Grundschule in Westberlin unterrichtet worden ist, soll das lernen, was ihrem Mann in der früheren Heimat verwehrt worden war: „Mein Mann ist Jude, aber außer seinem Stempel in seinem sowjetischen Paß hat er keinen jüdischen Hintergrund.“
Und die 44jährige Regina Schneider Gaskin, eine Jüdin aus Brasilien, hofft, daß ihre zwölfjährige Tochter durch die Schule „wenigstens ein paar Kenntnisse der Religion und Geschichte erhält“. Sie selber könne ihr das nicht vermitteln, denn mit der Religion habe sie bislang „sehr, sehr wenig“ zu tun gehabt.
Das Jüdische Gymnasium, an dem bislang auch acht Realschüler unterrichtet werden, sieht sich als Stätte der „Toleranz, der Verständigung zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Deutschen und Ausländern“, wie Jerzy Kanal gestern betonte. Die Kinder werden – neben den allgemeinen Lehrplänen staatlicher Schulen – wöchentlich drei Stunden Unterricht in jüdischer Religion und Bibelkunde sowie zwei Stunden in Hebräisch erhalten. Daneben wird es Tischgebete geben, und auch das Essen an der Ganztagsschule wird koscher sein.
Schuldirektor Uwe Mull, selbst Christ und zwei Jahre lang Elternvertreter an der seit 1986 existierenden Jüdischen Grundschule in Charlottenburg, strebt mit den Schulen in Mitte und privaten Lehrinstitutionen eine Zusammenarbeit an. „Wir wollen keine Isolierung vom Berliner Schulbetrieb“, erklärt der Studiendirektor, der bis vor kurzem noch pädagogischer Koordinator an einem staatlichen Gymnasium in Reinickendorf war. Ironisch kontert er die Frage, warum gerade er als Nichtjude eine jüdische Schule leite: „Ich bin der Garant dafür, daß hier eine 5 genauso gut ist wie eine 5 auf einer staatlichen Schule.“
Einige der Schüler, zumeist der männlichen, gaben ihren Lehrern schon einen Vorgeschmack auf den Schulalltag. Gefragt, ob denn nun auch genügend Mädchen in seiner Klasse seien, antwortet der zwölfjährige Maxim Medovoj, selbstbewußt und rotzfrech: „Na, hoffentlich.“
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