: Wieder Scherbendemo in Göttingen
■ Als Reaktion auf die Räumung der Hamburger Hafenstraße, eine Razzia bei einem linken Buchladen und einen Kanzlerbesuch / Teil eines seit langem andauernden „Kleinkrieges“ zwischen Szene und Polizei
Aus Göttingen Reimar Paul
Glasbruch in großem Ausmaß hat es erneut in Göttingen gegeben. Am Samstagabend gegen 22.15 Uhr tauchten ca. 80 Leute aus dem autonomen Spektrum in der Innenstadt auf. Mit Hämmern, Knüppeln und Steinen schlugen sie bei insgesamt 15 Geschäften und Banken die Scheiben ein. Durch die zerstörten Fenster des Karstadt–Möbelhauses schlugen zwei Molotowcocktails. Etliche Dekorationsstücke fingen Feuer und wurden von Passanten auf die Straße gezerrt. Nach wenigen Minuten war die Aktion vorbei. Die Autonomen formierten sich zu einer Spontandemonstration und zogen im Laufschritt zu einem „Cochise“–Konzert an der Uni zurück. Die anrückenden Polizeieinheiten stießen ins Leere und konnten keine Festnahmen tätigen. Der entstandene Sachschaden beziffert sich auf rund 250.000 DM. Die Sprechchöre der Aktivistengruppe - „Feuer und Flamme für diesen Staat“ - ließen das Motiv für die Aktion zwar im Dunkeln; sie ist aber als Protest gegen die Häuserräumung in der Hamburger Hafenstraße und als Bestandteil des praktisch seit Jahren anhaltenden „Kleinkrieges“ zwischen der autonomen, linksradikalen Szene und der Polizei zu werten, der sich in den letzten Tagen weiter verschärft hat. Im Zusammenhang mit einem Wahlkampfauftritt von Kanzler Kohl war es bereits am Donnerstagabend zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, bei denen unter anderem fünf Demonstranten festgenommen und zwei Streifenwagen demoliert wurden. Zwölf Stunden später durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamtes einen linken Buchladen und eine Privatwohnung mit der Begründung, „radikal“–Hefte beschlagnahmen zu wollen. Die Ausbeutung der Razzia war ein ganzes Exemplar jener Zeitschrift. Die beiden Geschäftsführer des Buchladens wurden erkennungsdienstlich behandelt. Hausdurchsuchungen sowie offene und verdeckte Polizeimaßnahmen aller Art prägen den politischen Alltag der Stadt schon jahrelang. Das in Göttingen erstmals angewandte Spurendokumentationssystem SPUDOK, geheime Sondereinsatzkommandos, das Einschleusen von Agenten in Bürgerinitiativen, die Einrichtung von zwei neuen Polizeirevieren, personelle Aufstockung, ständige Observation linker Kneipen und Wohngemeinschaften und nächtliche Patrouillen im Minutentakt kennzeichnen die innere Aufrüstung vor Ort. Die Strukturen und Aktivitäten der seit Häuserkampfzeiten starken autonomen Szene konnte dennoch nur teilweise eingeschränkt werden. „Scherbendemos“ und Kleingruppenaktionen finden weiterhin nahezu allwöchentlich statt. Ist die Polizeipräsens in der City allzu massiv, weicht man in die Randbezirke oder Vororte aus. „Zwischen den Fronten“ sucht sie auf viele Gruppen verteilte nichtautonome Linke nach Artikulationsmöglichkeiten. Sie ist hin– und hergerissen zwischen klammheimlicher Freude über spektakuläre Anschläge wie z.B. gegen eine Bundeswehrkaserne im September und Kritik an der oft undifferenzierten Objektauswahl der autonomen Aktionsgruppen.
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