: Wieder Liebesgedichte schreiben
Der rumänische Poet Mircea Dinescu über Schwierigkeiten der Demokratisierung ■ I N T E R V I E W
taz: Wie geht es Ihnen nach dem Revolutionsstreß?
Dinescu: Ich empfinde jetzt schon ein wenig Nostalgie nach der Zeit meines Hausarrestes in der Biteliastraße und den sechs Jungs, die für meine Ruhe sorgten. In den ersten Monaten habe ich einen halben Gedichtband fertigstellen können. Seit der Revolution habe ich keine Zeile mehr schreiben können. Tausende von Leuten suchen mich auf, und alle wollen etwas von mir, weil ich damals als einer der ersten im Fernsehen auftauchte. Jetzt besteht die Gefahr, daß wir, nachdem wir 40 Jahre lang uns den Sozialismus vorgeträumt haben, beginnen, uns die Demokratie vorzuträumen. Es stehen heute Leute im Vordergrund, die sich vorgedrängt haben, während viele fähige Personen im Hintergrund bleiben. Wenn sich das nicht ändert, werde ich die Gründung einer Partei der Schüchternen vorschlagen und mit ihr bald die Regierung stürzen.
Sie wollen also nicht einfach die Normalisierung akzeptieren...
Ach nein, wir leben noch in einem Zustand glücklicher Anormalität und versuchen, ihn zu unserer künftigen Lebensweise zu machen. Die Leute hier haben total vergessen, wie das ist. Frei zu sein, frei zu denken, ihre Gedanken frei zum Ausdruck zu bringen. Noch hat sich die Sprache nicht verändert - nicht im Fernsehen, nicht in den Zeitungen. Und was mich traurig stimmt, ist, daß die Euphorie über den Tod des Diktators anhält. Die Presse lebt noch immer von der Leiche des Mörders. Wir sollten lieber ruhig überlegen, wie es möglich war, daß Millionen Rumänen jahrzehntelang so leben konnten, Beifall klatschten und IHN mit Hochrufen bedachten. Ich glaube, es ist höchste Zeit, daß wir unsere Toten und uns selber beweinen. Die Kernfrage ist jetzt nicht die Kälte und die Hungersnot, darin haben wir ja Übung; es geht um uns selbst. Die Menschen hier sind doch nicht sicher, ob wir wirklich Demokratie anstreben, sie sind noch zu deprimiert. Sie verweisen darauf, daß die gleichen Leute immer noch oben sind. Das stimmt zwar nicht ganz. Dies ist vielmehr die Stunde der Stellvertreter. Wir leiden an Stellvertreteritis, und das ist auch eine Krankheit.
Auch in den Massenmedien?
Ja, die Zeitungen haben zwar die Namen geändert. Alle nennen sich jetzt „frei“. Mir wäre wohler, wenn sie die alten Namen beibehalten und die Leute ausgewechselt hätten. Jetzt spielen sich die gleichen Leute, die mehr als 20 Jahre lang ihre Unterschrift unter die Lobgesänge setzten, als Demokraten auf. Sicher, auch ich bin für die nationale Versöhnung; man darf diese Leute nicht an die Wand stellen, wir dürfen ihnen gegenüber nicht so starr sein, wie sie uns gegenüber waren. Aber sie sollten zumindest um Verzeihung bitten. Die Zeitungen sollten statt „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ jetzt „Verzeihen Sie bitte die Lügen der letzten zwanzig Jahre“ drucken.
Bei den Schriftstellern haben auch viele geschwiegen.
Jetzt behaupten alle, daß sie sich im Widerstand befanden. Das stimmt aber nur zum Teil. Auch die Behauptung, nur durch die Kultur konnten wir überleben, ist eigentlich eine feige Formulierung. Sicher, auch während der Zeit der Diktatur erschienen viele gute Bücher, die die Menschen aufrechthielten. Jeder hat gelesen, besonders die Jugend. Literatur war wie eine Droge für sie, zumal es keine anderen Unterhaltungsmöglichkeiten gab. Presse und Fernsehen waren uninteressant. Das heißt aber nicht, daß wir Schriftsteller unschuldig sind. Ich selbst habe lange genug an die Möglichkeit eines Dialogs mit der Macht geglaubt und hoffte, daß es möglich sei, gute Bücher herauszubringen, statt auf die Straße zu gehen. Genau das aber hätten wir tun müssen, mit entblößter Brust, wie die jungen Leute in Temesvar und dann auch in Bukarest. Wenn das schon 1980 geschehen wäre, wäre Bukarest noch eine richtige Stadt, und nicht voll von diesen ungeheuren Betonklötzen. Es gäbe nicht die unterirdischen Gänge, die den Untergrund der Stadt zu Schweizer Käse machen. Er hatte sogar eine eigene U-Bahn, stellen Sie sich mal vor, was für eine Mentalität, die eines zurückgebliebenen Kindes, eine Rattenmentalität. Es ist traurig festzustellen, daß diese unterirdische Mentalität den Sozialismus hierzulande bestimmen konnte.
Welche Weichen sind zu stellen?
Wenn es mit den Maßnahmen klappt, die wir für Kultur, Presse und Universitäten vorhaben, dann gibt es eine Chance. Die Akademie muß zu neuem Leben erweckt werden. In ihr sitzen nur noch eine Handvoll Greise, seit 15 Jahren gab es keine Neuaufnahmen mehr. Niemand in der Stadt weiß mehr, wo die Akademie überhaupt liegt. Als Anfang der 70er Jahre Elena Ceausescu nicht aufgenommen wurde, hat man die meisten Mitglieder hinausgeschmissen. Dann ist sie Mitglied geworden. Dann kam noch eine spanische Grippe, bei der die Hälfte der Akademiemitglieder starb. Jetzt müssen junge Leute in die Akademie.
Wird sich der Rat der Front als Partei konsituieren?
Es gibt diese Tendenz. Aber ich bin dagegen. Wir sind alle sehr unterschiedlich in den Meinungen und im Alter. Ich selbst habe keine politische Funktion übernommen, aber ich werde dennoch eine Zeitlang mitmachen. Denn ich glaube, daß man mich im Rat der Front noch braucht. Es gibt dort nämlich noch Leute, die die Hand heben, wenn sie sprechen wollen, so wie in der Schule. Ich bin gewöhnt, mich wie ein freier Mensch zu verhalten. Und das möchte ich auch denen beibringen. Ansonsten habe ich großes Vertrauen zur Führung, auch zu Iliescu und zu Roman, mit dem ich übrigens gerne und oft streite. Sie sind nicht eingebildet, zumindest vorläufig nicht. Politiker hat es in Rumänien seit 40 Jahren nicht mehr gegeben. Selbst der Begriff ist diskreditiert, denn die sogenannten Politiker waren Funktionäre, die bloß wiederholten, was ihnen vorgebetet wurde. Sie sind es, die den Marxismus in Rumänien zugrunde gerichtet haben. Der Marxismus wurde so ehrenlos begraben, wie er es eigentlich nicht verdient hätte. Sie hätten ihm wenigstens eine liebenswürdigere Bestattung gönnen können.
Und Ceausescu?
Nun ja. Ein toter Diktator ist besser als ein lebendiger. Ceausescus Tod hat die Securitate handlungsunfähig gemacht.
Sie existiert aber immer noch.
Ich glaube, kein Staat kann ohne solche Sicherheitsinstitutionen funktionieren. Die Securitate ist auch schon früher in sich differenziert gewesen. Es gab eine Wirtschafts-, eine Kulturabteilung und es gab jene Abteilung, die für die Sicherheit Ceausescus verantwortlich war. Das war die übelste von allen. In diesem Haus, in dem wir uns unterhalten, dem Gebäude des Schriftstellerverbandes, gibt es überall noch Wanzen. Wir werden versuchen, mit den Spezialisten Verbindung aufzunehmen und alle derartigen Einrichtungen entfernen zu lassen. Diejenigen, die sich im Sicherheitsapparat schuldig machten, müssen natürlich dafür bezahlen. Alle anderen sollten endlich ihrer eigentlichen Aufgabe nachgehen. Und die besteht darin, für Sicherheit zu sorgen. Sie müssen sich in ein demokratisches Konzept der Sicherheit einfügen.
Wird die Literatur zukünftig noch eine politische Rolle spielen?
Ich selbst möchte mich über die Revolution nicht literarisch äußern. Ich habe früher politische Dichtung gemacht, aber das ist Prosa. Ich will wieder Liebesgedichte schreiben. Bald wird mein Gedichtband Der Tod liest Zeitung erscheinen, den Werner Söllner ins Deutsche übersetzt hat.
Wir müssen auch alle die das Land verlassen haben, zurückgewinnen. Eine Entschuldigung ihnen gegenüber gab es noch nicht. Was die rumänendeutsche Literatur anbelangt, habe ich mit der Gruppe junger Schriftsteller der Zeitschrift 'Neue Literatur‘ gesprochen. Wir wollen sie zu einer Zeitschrift von europäischem Rang erheben. Sie soll sich der gesamten deutschsprachigen Literatur öffnen, ob aus der BRD, der DDR, aus Österreich oder der Schweiz. Wir wollen die Redaktion vergrößern. Chefredakteure könnten auch Herta Müller oder Werner Söllner werden, egal, ob sie in Rumänien leben werden oder nicht. Auch die Rumäniendeutschen können dazu beitragen, uns zu einem Teil Europas zu machen.
Interview: Erich Rathfelder
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