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Wie kommt der Kuß in den Mund?

Von Fahrradtouren und anderen Gelegenheiten, sich erstmals zu verlieben, ist in „Warts Up“ zu lesen, der Bohème-Zeitung mit der 14. Ausgabe zum 14. Lebensjahr. Von seiner Lektüre berichtet  ■ Harald Fricke

Wer kein Programm hat, will wenigstens ab und an in die Speisekarte schauen. Zur Bohème gehörte immer auch schon eine Zeitung, die sich auf den Alltag bezieht – ohne ihn aber täglich wiederholen zu müssen. Eher läßt man die ganze Chose Revue passieren, wohlwissend, daß Leben irgendwie dem Lesen ähnelt. So eine Art individuelles Allgemeines und deshalb meist von Literaturen umsäumt, selbst bei der Pusteblume unter den Fanzines, die mit regelmäßiger Plötzlichkeit ungewöhnlicherweise kostenlos in Szenekneipen wie Hackbarth's oder dem Schokoladen ausliegt und ebenso beständig wie gierig ausgelesen wird: Warts Up.

Dort krickelt Ol feingliedrige Männlein auf stille Seiten, deren Trunksucht zum Tode recht russisch das Scheitern bebildert, und Holger Fickelscherer zeichnet komische Heilige, die manchmal wie Yetis aussehen. Dort springen die Texte zwischen rätselhaft verästelten Bekenntnissen zu Osttristesse und Westmelancholie hin und her. Zum Nulltarif, nicht für Geld, sondern mehr aus Liebe zum Buchstaben. Als meinereiner sein erstes Exemplar in der Hand hielt, drehte sich alles um alte Bücher, zuletzt legte man sich für Okkultes krumm und Lenore Blievernicht sprach mit UFO-Gläubigen. In der neuesten Ausgabe hat die Warts Up-Mischpoke nun alte Tagebücher und Briefe vom Dachboden geholt, nur um herauszufinden, woran am Mythos der Pubertät alles hängt: Wie kommt der Kuß in den Mund?

Solche Rückblicke wiegen allemal schwer: Gerne wird zwar im Alter freizügig über die Verfehlungen der Kindheit gesprochen, doch die Jugend gilt zumeist als vermintes Gelände. Wer in die Hosen gepinkelt und mit der eigenen Kacka gespielt hat, will nicht immer auch vom frühzeitigen Samenerguß und dem Blut der frühen Jahre sprechen. So bleibt die Kindheit meist an die Freiheit vom Selbst gebunden, und der Jugend haften vielfältige Probleme an: „Daß der real echte wirklich eigene Körper, also fintenhaft Ich, Niemand im Auge des Zyklopen, daß also dieses Ich=Körper=Teil etwas mit dem jungen Mann, sagte ich onkelhaft einschmeichelnd, zu tun haben sollte in den weißen Feldern + unter den Partisanen des Unbewußten, schien mir da unsinniger denn je.“ Die Erinnerungen in Falten gelegt, schreibt sich Andi Frank in der neuen Warts Up-Ausgabe seine Sorgen vom Leib und findet doch am Ende nur zurück zu den Mauern, gegen die er mit vierzehn schon seine Tennisbälle schlug.

So weh tut es nicht immer. Im rückwärtsgewandten Schreiben entstehen oft auch seltsam ornamentale Spuren, auf denen die Liebe einst gewandert ist: Erste Landschulreisen in die Fremde, von denen man fast immer wissend, doch leider als ein anderer zurückkehrt. Oder die Liebe entsteht auf abendlichen Fahrradtouren, die wie Eselsbrücken Disco und Elternhaus miteinander verbinden. Noch kennt die Neigung keinen eigenen Ort, und manch Begehrliches muß ein stillgestelltes Erinnerungsbild bleiben, so wie Poster von Alain Delon an der Wand im Mädchenzimmer oder sich wiederholende Auftritte von Smokie im Fernsehen.

Vor allem neugierig ist die ganze schreibende Horde von Wirs „um die Dreißig“ über ihre Vergangenheit hergefallen, die das Heft 14 ein wenig zahlenmystisch mit Geschichten und Bildern der Jugend verziert (für das Heft 15 mit dem „furchtbaren Thema Angst“ ist der Redaktionsschluß wiederum am 14. Juni). Wer dabei im Osten jung war, findet mit seinen „Suchaktionen“ (Karoline Bofinger) scheinbar leichter in den Lebensrhythmus von Jugendweihe, Clique und Disco zurück. Die Originalbriefe der West-Geschwister Wahjudi dagegen sind schon früh mit Verstellungen gespickt: „Ich bin nicht mehr die Alte, sondern gebe mich niedergeschlagen und völlig down. Das hört sich ja wahnsinnig kindisch und albern an. Aber was soll ich sonst tun?“ geistert ein verlegenes Ich nach dem Verrat an der besten Freundin reuig durch die Hippiezeit.

Wo dann wirklich ein bißchen unsicher der Körper verführt werden will, mag man ihm den fremden Wunsch noch im nachhinein nicht zutrauen. Lenore Blievernicht überspringt die erste aufgeregte Körperhandlung und will sich im entscheidenden Moment einen Hamster als Schutz vor dem nahenden Kuß vor die Lippen gehalten haben. Ansonsten bleiben die Geschlechter getrennt. Wenn sie zusammenkommen, dann nur im Wettkampf: Zungenküsse fürs Guinness-Buch der Rekorde.

Wer nicht darauf warten will, ein kostenloses Exemplar zu finden, kann „Warts up“ über die Comic- Bibliothek Ackerstraße 169 auch abonnieren. Vier Ausgaben im Jahr kosten 25 DM.

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