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Wie kann man leben von der Familie getrennt?

Gespräche mit bosnischen Flüchtlingen über den neu aufgekommenen Haß, über die alte kulturelle Vermischung und religiöse Toleranz/ Das Verbringen in eine „Gastfamilie“ kann erneute Trennung und neuen Schmerz bedeuten  ■ Von Klaus Wolschner

Bremen/Hamburg (taz) — „Das ist eine Schande für Europa“, sagt der Vorsteher der kleinen bosnischen Gemeinde in Bremen, Ismer Hodzic; eine Schande, daß es ausgerechnet Moslems sind, die im aufgeklärten Europa hingemetzelt, vertrieben, in ihrer sozialen und geographischen Identität vernichtet werden. Was aber soll „Europa“ bedeuten für die meisten der Flüchtlinge, die vor einer Woche nach Deutschland gebracht wurden? Die bosnischen Gemeinden sind für sie die einzigen Ansprechpartner in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht verstehen. Selbst bei diesen Gemeinden öffnen sie sich nicht ganz. „Die meisten sind geistig noch nicht hier angekommen“, sagt ein Vertreter der Gemeinde. Die meisten haben sich nie darüber Gedanken gemacht, einmal woanders zu leben.

Die Flüchtlinge verstehen kein deutsches Wort

Die bosnischen Gemeindevertreter haben von der Welle der Gastfreundschaft erzählt, die in den Schlagzeilen plötzlich die Ausländerfeindlichkeit und die „Asyl-Debatte“ verdrängt, „wir sind sehr dankbar dafür“, sagt Hodzic höflich, aber die Flüchtlinge verstehen bei „Gastfamilie“ nur: neue Unsicherheit, Ausgeliefertsein an unbekannte Menschen, die sie nicht verstehen, Zerreißen der Notgemeinschaften, die sich gerade gefunden haben. Die Flüchtlinge warten fast apathisch ab, was immer mit ihnen passieren soll, wo immer man sie auch hinbringen will.

In zwei kleinen Wohnungen am Buntentorsteinweg in Bremen leben seit einer Woche 25 Menschen, vorwiegend Frauen und Kinder. Niemand hier spricht auch nur ein Wort Deutsch oder Englisch. Olsa steht in der Tür, eine kräftige Frau um die dreißig, ein Kind auf dem Arm, eines zerrt an der Schürze. Aus Modrica komme sie, übersetzt der Gemeindevorsteher, 10.000 Einwohner hatte das Städtchen. Erst wurden die Serben, die dort wohnten, von den Tschetniks gefragt, „ob sie mitmachen“ wollten. Wenig später wurden die, die nicht mitmachen wollten, zwangsevakuiert. Der bosnische Rest wurde dann bombardiert. Nein, das sei „kein religiöser Krieg“, sagt die Frau, eher eine nationalistische Eroberung.

Das alte Bosnien war „multikulturell“

Wie haben die verschiedenen Ethnien früher in Modrica zusammengelebt? Gab es „Mischehen“? Die Frau lacht, als ihr die Frage übersetzt wird. Nirgends in Europa gab es so viele „Mischehen“ wie in Bosnien. Aus dem Nebenraum wird der Beweis herbeigerufen: Eine andere junge Frau, Katholikin, ihr Mann ist Moslem. Die Kinder werden nicht religiös erzogen, sagt sie. Im sozialistischen Jugoslawien wurde Desinteresse an Religion staatlich gefördert.

„Niemand hat einem anderen zu sagen, wie er zu leben hat“, erklärt der Bremer Gemeindevorsteher. Die bosnischen Moslems in Deutschland schließen sich nicht den türkischen Moscheen an, sondern gründen, wie klein auch immer, ihre eigenen. „Wenn ein Deutscher an den Islam denkt, denkt er meist an arabische kulturelle Tradition“, sagt der Gemeindevorsteher. Der kulturelle Unterschied zur türkischen Gemeinde ist aber groß. Nur eines könne ein Bosnier, auch wenn er länger hier lebt, nicht verstehen: Wie man getrennt von der Familie leben kann, das heißt: von den Onkeln, den Großeltern, den Nichten, Neffen und Nachbarn.

Wo ist der Mann von Olsa? Sie weiß es nicht, genausowenig die anderen Frauen in der kleinen Flüchtlingswohnung. Seit Wochen keine Nachricht. Tot? Der Gemeindevertreter hört der Frau lange zu; dann faßt er ihre Antwortzusammen: Er könne sich nicht vorstellen, daß das bosnische Volk die Kraft finde, „das alles zu verzeihen“. Bevor Bosnier wieder in Bosnien leben könnten, müßten die Serben gehen. „Es ist die Verantwortung der ganzen Welt, daß die Serben dort vertrieben werden.“

In Hamburg sind die Flüchtlinge aus Bosnien in einem improvisierten Wohnwagen-Dorf hinter dem Aldi am Poppenbütteler Markt untergebracht. Am Rande des Parkplatzes rammen Baufahrzeuge eine Wippe in den Boden, notdürftig ist Sand abgekippt worden, zwei saubere, dunkelgrüne Blechbehälter für Müll sind schon fest angebracht – hier entsteht ein ordentlicher deutscher Spielplatz.

Es vergeht keine Viertelstunde, in der nicht ein hilfsbereiter Bürger ankommt und ablädt, was er gerade übrig hat. Eine Frau hat zwei Gartenstühle auf dem Gepäckträger des Fahrrads, ein Mann zieht einen großen blauen Müllsack mit Klamotten aus seinem Auto, „gut erhalten“, sagt er.

„Wir haben im Moment keinen Platz“, antwortet ihm ein junger AWO-Betreuer mit Aufnäher an der Jacke. Der Mann von der AWO geht, der blaue Müllsack wird dennoch ausgeladen. „Ich bin Österreicher, also eigentlich Nachbar“, sagt der freundliche Mann. Die Bosnier, die hier seit einer Woche leben, verstehen kein Wort, aber sie verstehen seine Geste. Wer zuerst zu dem blauen Sack kommt, kann zuerst aussuchen, aber es gibt keinen Ansturm. An gut erhaltenen, gebrauchten Kleidungsstücken besteht kein dringender Bedarf.

Ein anderes Auto hält, stapelweise Keks-Päckchen wandern in die verschiedenen Wohnwagentüren, ein Kind kriegt einen Plastikball, ein Ehepaar steigt aus — die beiden kennen sich aus auf dem Platz, sprechen fließend serbokroatisch. „Vor 27 Jahren bin ich nach Deutschland gekommen“, sagt der Mann, Beruf: Elektroingenieur. Diese Woche hat er sich frei genommen, organisiert, hilft, spricht mit den Flüchtlingen, ist einfach da. Warum dieser Bürgerkrieg? „Ich kann das nicht begreifen“, sagt er und bringt sich selbst als Beispiel für das Jugoslawien, wie er es kennt: Er ist Serbe, seine frühere Frau war Kroatin, seine Kinder sind in Kroatien geboren, seine zweite Frau ist Bosnierin.

Wir haben Tür an Tür gelebt“ mit den Serben

Ein Mann mit zerfurchtem Gesicht, vielleicht 60 Jahre alt, steht vor „seinem“ Wohnwagen. Er ist Bauer aus Kosarac, sagt er. Der Elektroingenieur ist bereit, zu dolmetschen, so gut es geht – daß er eigentlich Serbe ist, möchte er lieber nicht sagen. Warum dieser Bürgerkrieg? Der Bauer erzählt aus seiner kleinen Stadt, 15.000 Bewohner, schätzt er, hatte Kosarac: Eines Tages waren die Tschetniks da. Auch einer seiner Nachbarn gehörte plötzlich dazu. „Wir wußten jahrelang nichts. Wir haben Tür an Tür gelebt, zusammen gefeiert“, sagt er – über Nacht war aus dem Nachbarn ein Todfeind geworden.

Es gab in Kosarac Moscheen und Kirchen. Die moslemischen Priester wurden ermordet, die Moschee angezündet. Wie der Haß entstanden ist? Der Bauer versteht es nicht. Durch die Kirche, vermutet er, irgendwie vorbereitet. Vielleicht hat auch der Haß von dem Gemetzel in den 40er Jahren unterschwellig weitergelebt, fügt der Elektroingenieur, der übersetzt, hinzu.

Die beiden Alten aus Kosarac sind gläubige Moslems. Als die Moschee nicht mehr war, haben sie ihre Gebete anderswo organisiert. Probleme im christlichen Deutschland? „Es gibt keine Probleme. Das einzige Problem ist: Wo sind unsere Kinder?“, sagt die Frau. Seit zwei Monaten haben sie nichts von den zwei erwachsenen Söhnen gehört. Der Bauer wendet sich weinend ab. Das Gespräch ist zu Ende.

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