■ Wie kann eine gerechte Sozialpolitik aussehen, die die Fehler des sozialdemokratischen Etatismus vermeidet?: Ohne Bürgertugend kein Sozialstaat
Der deutsche Sozialstaat ist von gestern. Sein Regelwerk ist auf die Sozialstrukturen der 50er und 60er Jahre mit lebenslanger Vollerwerbstätigkeit und Vater-Mutter- Kind-Familie eingestellt. Und auch seine moralischen Ressourcen findet er mit den Traditionsbeständen der Arbeiterbewegung und der katholischen Soziallehre in vergangenen Zeiten. Doch diese überlieferten Sinnpolster sind inzwischen zu zerschlissen, um noch sozialen Zusammenhalt zu stiften. Als Verständigungsgrundlage für die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen reichen sie nicht mehr aus.
Angesichts dieser Situation erlebt die US-amerikanische Kommunitarismusdebatte in Deutschland seit einigen Jahren eine steile Karriere. Welche Werte und Gemeinschaftsformen sichern den gesellschaftlichen Zusammenhalt? So lautet die kommunitaristische Frage – und die sorgt für Verwirrung bei denen, für die sich Sozialpolitik in der (Um-)Verteilung finanzieller Ressourcen erschöpft.
In Deutschland verweist die Kommunitarismusfrage auf die Leerstelle linker Sozialstaats-Diskussionen. Trotz Sozialstatistik und Selbsthilfebewegung in den 70er und 80er Jahren sind in Deutschland die Debatten über soziale Selbstorganisation und soziale Sicherung nie konzeptionell zusammengeführt worden. Daß sich Solidarität nicht einfach aus geteilten Interessen ergibt, sondern auf Solidarnormen angewiesen ist, die sich in kleinräumigen sozialen Netzen ausbilden, ist nach dem Abflauen der Selbsthilfe- und Projektebewegung schnell in Vergessenheit geraten.
So nimmt es nicht wunder, daß in der deutschen Sozialpolitik der Kommunitarismusbegriff durch Konservative und Rechte besetzt worden ist. Vordenker wie Wolfgang Schäuble wollen die in ihren Augen selbstzufriedene und durch den übermäßigen Gebrauch sozialer Rechte ausgelaugte Gesellschaft durch mehr Bürgertugenden und Gemeinsinn für die Standortkonkurrenz fit machen. Durch freiwillige Selbstbeschränkung sollen die Ansprüche an den Sozialstaat zurückgenommen und das „Übermaß an kollektiver Versorgung“ durch traditionelles Ehrenamt und persönlichen Einsatz ersetzt werden. „Tu Gutes, sei demütig und bleibe politisch bescheiden“, lautet ihre Parole.
Die Sozialdemokraten haben dem wenig entgegenzuhalten. Die kommunitaristische Frage beantworten sie etatistisch, für das Soziale sei der Staat zuständig. Auf die Frage, wo denn die Solidarität herkommen soll, die sie für die Verteidigung der sozialstaatlichen Institutionen brauchen, antworten sie mit dem Verweis auf die Traditionsbestände der Arbeiterbewegung und vermeintlich gemeinsame Interessen. Doch im Zuge von Individualisierung und sozialem „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck) sind auch in der Solidargemeinschaft der Sozialstaatsbürger Interessenunterschiede zutage getreten. Welches Interesse hat denn ein junger, kinderloser Besserverdiener an der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in die Rentenversicherung? Weshalb sollte sich ein leitender Angestellter, dessen Arbeitsplatz auf absehbare Zeit gesichert zu sein scheint, für ein auskömmliches Arbeitslosengeld einsetzen? Ganz zu schweigen von den steuerfinanzierten Sozialleistungen, wie etwa der Sozialhilfe, von denen die meisten Steuerzahler wenig haben, für die sie aber zahlen müssen.
Offensichtlich ist der Sozialstaat auf moralische Grundhaltungen angewiesen, die über die reinen Selbstinteressen seiner Akteure hinausweisen. Diese Bereitschaften, „etwas füreinander zu tun“, auf denen letztlich auch die Zustimmung zu den kollektiven Sicherungssystemen beruht, entstehen aber nicht in den sozialstaatlichen Institutionen. Dafür werden die Gemeinschaften und Assoziationen der Bürgergesellschaft gebraucht. Ohne Bürgergesellschaft also kein Sozialstaat. Doch ohne Sozialstaat auch keine Bürgergesellschaft. Denn erst die kollektive Daseinsfürsorge sorgt dafür; und in diesem Zusammenhang blenden konservative Sozialstaatskritiker gerne aus, daß die Sozialstaatsbürger überhaupt den Rücken frei haben, um sich sozial und politisch engagieren zu können. Daß in Selbsthilfegruppen, selbstorganisierten Vereinen und Verbänden gerade diejenigen aktiv sind, die nicht ums tägliche Überleben kämpfen müssen, sondern auch in biographischen Krisen abgesichert sind, ist kein Zufall.
Der enge Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Bürgergesellschaft spielt in der deutschen Sozialpolitik bisher keine Rolle. Für die einen nicht, weil sie den Sozialstaat nur noch als kostenträchtiges Wettbewerbshindernis wahrnehmen. Die Aktivierung des Gemeinsinns gerät dabei zum sozialpolitischen Ausfallbürgen. Für die anderen nicht, weil für sie die soziale Bürgergesellschaft nur als „rechte Rhetorik“ existiert – und gerade mit diesem ideologischen Reflex ziehen sie dem Sozialstaat den Boden unter den Füßen weg.
Dabei gäbe es viel zu tun. Eine kommunitaristisch inspirierte Sozialpolitik, die die gesellschaftlichen Grundlagen des Sozialstaats ernst nimmt und sich nicht mit „Tagen des Ehrenamts“ und der Verleihung von Bundesverdienstkreuzen zufrieden gibt, deutet sich bisher nur punktuell an. Dazu gehören Themen wie die Investition in eine moderne soziale Infrastruktur, die Solidaritätsbereitschaften unterstützt und nicht ausbeutet. Die sozialrechtliche Aufwertung moderner Gemeinschaftsformen, die sich nicht an konservativen „family values“ ausrichtet oder auf die Förderung von Verbänden beschränkt. Die Schaffung von Zugängen zum Sozialengagement, die auf die veränderten Interessen und Bedürfnisse insbesondere der Jüngeren zugeschnitten sind. Die finanzielle Absicherung bürgerschaftlichen Engagements durch ein Sozialeinkommen...
Durch eine solche Sozialpolitik würde aber nicht nur die Bürgergesellschaft belebt, sondern auch das sozialstaatliche Institutionengefüge selbst verändert werden. Mit der Aufwertung bürgerschaftlicher Selbsttätigkeit ginge eine Demokratisierung der etablierten Sozialpolitik einher: Parteien, Verbände und professionelle Bedürfnisinterpreten erhielten Konkurrenz. Insofern hat die (noch ausstehende) Debatte über ein neues Verhältnis von Sozialstaat und Bürgergesellschaft beides zugleich: eine sozialpolitische und eine demokratische Seite. Holger Backhaus-Maul/
Andreas Brandhorst
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