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Wie in einem »okkupierten Land«

■ BezirkspolitikerInnen und Stadtverordnete des Bündnis 90 verbittert über (West-)Berliner Räumungspolitik

Berlin. Wahlkampfmanöver und gezielte Polizeiprovokation — so lautete das Fazit von Stadtverordneten und Bezirksstadträten zu den Häuserräumungen und nachfolgenden Straßenschlachten in Ost-Berlin. Bärbel Bohley (Neues Forum), die zwischen Polizei und BesetzerInnen in der Mainzer Straße zu vermitteln versucht hatte, gab sich gestern auf einer Pressekonferenz noch einmal überzeugt, daß die Eskalation zu verhindern gewesen wäre, wenn entweder Innensenator Pätzold oder Innenstadtrat Krüger die Polizei zurückbeordert hätte. Nach ihren Angaben waren die Einsatzleiter vor Ort dazu bereit — unter der Voraussetzung einer politischen Entscheidung.

Die SPD habe sich wohl kurz vor den Wahlen noch einmal als »Saubermann« präsentieren und ein paar Häuser räumen wollen, resümierte Siegfried Zoels, stellvertretender Bezirksbürgermeister und Jugendstadtrat am Prenzlauer Berg, »und das ist nach hinten losgegangen.« Die Gewalteskalation in der Mainzer Straße sei eindeutig durch das Verhalten der Polizei provoziert worden. Zoels hatte noch am Sonntag, also einen Tag vor der Räumung der besetzten Häuser in der Lichtenberger Pfarrstraße und der Cotheniusstraße in Prenzlauer Berg an Innensenator Pätzold, Innenstadtrat Krüger und Polizeipräsident Schertz appelliert, die Räumungsentscheidung rückgängig zu machen. (Siehe taz von gestern.) Die Hemmschwelle zur Aggression, so Zoels, sei nach dem von der Polizei erschossenen Fußballfan in Leipzig und den jüngsten Zusammenstößen zwischen Polizei und Hooligans in Magdeburg, sehr niedrig; zudem seien die HausbesetzerInnen in den letzten Wochen durch die Hinhaltetaktik der Regierenden zunehmend frustriert. »Zu diesem Zeitpunkt ein Haus zu räumen, bedeutet, mit dem Feuer zu spielen.«

Zu einer Antwort an Zoels sah sich keiner der Addressaten genötigt. Statt dessen traf ein, was Zoels vorhergesagt hatte: eine Straßenschlacht — gekennzeichnet durch eine in Ost-Berlin bislang nicht gekannte Gewaltbereitschaft seitens einiger Besetzerfraktionen und eine Polizei, die sich in den letzten beiden Tagen in den Augen der Vermittler in eine Bürgerkriegsarmee verwandelte. »So etwas haben wir noch nie erlebt«, erklärte immer noch fassungslos ein Bezirksverordneter des Bündnis 90 aus Friedrichshain. »Nicht mal am 7. Oktober.«

Wut und Verbitterung herrschte gestern auch unter Ostberliner Bezirksverordneten und Bezirksstadträten, die sich durch die Pätzoldsche Räumungspolitik düpiert fühlen. »Wir interessieren die überhaupt nicht«, resümierte Stadtrat Zoels, »wir sind letztlich ein okkupiertes Land.« Total »plattgewalzt« fühlt sich seit Montag auch Bernadette Kern, vom Bündnis 90 in Friedrichshain. Noch am Montag nachmittag habe die Friedrichshainer Wohnungsbaugesellschaft versichern lassen, es gebe keine Räumungsbegehren für die Häuser in der Mainzer Straße. Dienstag nachmittag habe dann plötzlich ein Räumungsbegehren vorgelegen.

Die StadträtInnen in den betroffenen Bezirken sehen nach der Gewalteskalation ihre erarbeiteten Konzepte in der Jugend- und Kulturarbeit gefährdet, in die zum Teil auch die besetzten Häuser integriert sind. Uwe Dähn, Kulturstadtrat in Mitte, verwies auf zehn bezirklich unterstützte Kulturprojekte in besetzten Häusern, in denen im Moment nur ein Thema die Diskussion beherrsche: wird geräumt oder nicht. Andrea Böhm

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