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Wie gelingt die Zukunft Europas? Deutschland bitte abschaffen

Ulrike Guérot will den Menschen »ihre Heimat zurückgeben« und die Nationalstaaten zugunsten einer europäischen Republik auflösen.

Bild: Patrick Post

von Hannes Koch

Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Krise. Die Ehe funktioniert nicht mehr. »Gehen Sie dann zurück zu Ihrem früheren Partner?«, fragt Ulrike Guérot ins Publikum. »Nein. Denn mit dem hat's ja auch nicht geklappt«, antwortet sie selbst. »Sie suchen sich einen neuen Freund.«

»In der Geschichte ist der Weg zurück ebenfalls keine Option«, sagt Guérot, »wir müssen nach vorne.« Von der Bundesrepublik zur europäischen Republik. So wie Europa heute verfasst sei, funktioniere es einfach nicht mehr. Applaus im Saal, wenn auch nicht von der Mehrheit.

Schauspielhaus Stuttgart, gleich neben dem Riesenloch des zukünftigen Superbahnhofs. Theater und Wirklichkeit: Die Zukunft Europas heißt die Veranstaltung. Der große Saal ist mit geschätzt vierhundert Leuten – graue und weiße Haare dominieren – zu zwei Dritteln gefüllt. Anstatt an diesem sonnigen Sonntagvormittag auszuschlafen, zu joggen oder Musik zu hören, kommen die Leute ins Schauspielhaus – wegen des Themas. Aber auch wegen Guérot, der Frau, die Deutschland abschaffen will.

Weg mit dem Nationalstaat

Sie, eine angriffslustige Frau, sitzt im schwarzen Sessel auf der Bühne und haut jetzt diesen Satz raus: »Ich gebe den Leuten ihre Heimat zurück.« Die Heimat? Sie meint: Eliminiert man die Bundesregierung, wird Brüssel stärker, aber auch die jeweilige Region, in der die Menschen leben. Ein Europa, das aufgebaut ist aus vielen kleinen Heimaten, müsste den Bürgern doch näher sein als dieses komische Gesamtdeutschland.

In Dresden demonstrieren die »Patriotischen Europäer« gegen Flüchtlinge, in Cottbus mobilisiert die Organisation »Zukunft Heimat«, die AfD sitzt jetzt im Bundestag. Und Guérot bildet den Gegenpol zu Thilo Sarrazin, Autor des Buches Deutschland schafft sich ab. Der Wortführer der neuen Rechten klagt, dass die gute alte Bundesrepublik an die Wand gedrückt werde. Guérot dreht diese Sorge um, erhebt sie zur Forderung: »Weg mit dem Nationalstaat.« Sie hält das für die beste Strategie gegen den neuen Nationalismus.

Wegen solcher Gedanken arbeiten sich die Kritiker an ihr ab, werfen ihr Maßlosigkeit und Utopismus vor. Andere fasziniert ihre radikale Utopie. Irritieren lässt sie sich nicht. Auch nicht, als ihr Gesprächspartner, der Grüne Daniel Cohn-Bendit, einwirft, er kenne auch Fälle, in denen die frustrierten Eheleute schließlich doch in die bekannte Umarmung der ehemaligen Partner zurückkehrten. Er bekommt den größeren Beifall.

Zielscheibe für Rechtspopulisten

Mittlerweile hat Guérot es bis in die großen Talksendungen des Fernsehens geschafft, argumentierte bei Anne Will zum Beispiel gegen den österreichischen Rechtspopulisten Norbert Hofer von der FPÖ, der bei der letzten Präsidentenwahl gegen den Grünen Alexander Van der Bellen verlor. Sie warf ihm vor »menschenverachtendes Vokabular« zu verwenden, ließ sich auch vom ebenfalls anwesenden österreichischen Innenminister nicht unterbrechen. »Guérot auf die Guillotine« schrieb einer der vielen Hasskommentatoren im Netz. Sie aber habe keine Angst als »Troublemakerin« aufzutreten, sagt Elmar Koenen, befreundeter Soziologe der Uni München.

Lobby des Steigenberger Hotels, am Tag vor der Veranstaltung. Guérot – rote Haare, rote Lederjacke, roter Lippenstift – bestellt Rhabarberkuchen, schwarzen Kaffee, zwischendurch raucht sie eine Selbstgedrehte. Den Tabak habe sie nur gekauft, betont sie, weil sie mit Vielraucher Robert Menasse nicht arbeiten könne, ohne ebenfalls zu quarzen. Mit dem Bestsellerautor des proeuropäischen Buches Die Hauptstadt ist sie befreundet, am Tag zuvor hatten sie einen gemeinsamen Workshop in Freiburg. Seit 2016 ihr eigenes Buch Warum Europa eine Republik werden muss erschien, gehört Guérot zum wissenschaftlichen Jetset.

Etwa neunzig Einladungen pro Monat erreichen ihr Büro – für Podiumsdiskussionen, Vorträge, Interviews und Artikel. Zehn bis fünfzehn nimmt sie an. Neben ihrer Professur an der Universität Krems in Österreich ist sie beinahe jede Woche unterwegs, nach Brüssel, Florenz, Berlin oder woanders hin.

Von der Autorin zur Aktivistin

Mehr und mehr wird sie zur Aktivistin. Zweimal trat sie im vergangenen Jahr bei Kundgebungen von Pulse of Europe auf, der europafreundlichen Bürgerbewegung. Und ab 9. November dieses Jahres plant sie zusammen mit dem Regisseur und politischen Aktivisten Milo Rau das European Balcony Project. Auf möglichst vielen Theaterbühnen Europas soll das Manifest für die europäische Republik verlesen werden, dass sie mit Menasse schreiben will – ihre Art, den hundertsten Jahrestag der Ausrufung der ersten gesamtdeutschen Republik vom Balkon des Reichstages durch Philipp Scheidemann zu feiern.

Als studierte Politologin und Historikerin greift sie weit zurück bei der Begründung ihrer Utopie. Europa bestehe erst seit relativ kurzer Zeit aus Nationalstaaten, erklärt sie, viel länger dagegen aus »etwa fünfzig bis sechzig alten, historischen Regionen: Savoyen, Flandern, Venetien, Bayern, Brabant, Emilia-Romagna, Bretagne, Tirol, Katalonien – alle mit etwa sieben bis fünfzehn Millionen Einwohnern«. Auch in traditionsreichen Städten wie Augsburg, Hamburg, Köln oder Düsseldorf wurzele die Identität der Bürger stärker als in den nationalstaatlichen Konstrukten Deutschland, Italien, Frankreich, Niederlande und Belgien.

Als Zeugen ruft sie im Republik-Buch den Düsseldorfer SPD-Oberbürgermeister Thomas Geisel auf und zitiert ihn so: »Hier in Düsseldorf wissen wir doch, was wir mögen und wie wir unsere Stadt gestalten wollen. Und wir brauchen ganz sicher ein europäisches Dach. Aber Deutschland brauchen wir doch eigentlich nur noch für den Fußball.«

Über Frankreich zu Europa

Davon ausgehend postuliert Guérot, diese Regionen sollten jeweils zwei Senatoren in eine Kammer des Europäischen Parlamentes schicken – das Modell »Bundesrat«. Die Abgeordneten der zweiten Kammer würden die europäischen Bürger direkt wählen – im Gegensatz zu heute aber nach gleichem Wahlrecht für alle. Überhaupt ist der Begriff »gleiche Rechte« für Guérot der Kern. In ihrer Republik Europa haben alle grundsätzlich identische Ansprüche auf staatliche Unterstützung und zahlen Steuern nach denselben Gesetzen. Zwischen den Regionen und der demokratisch kontrollierten Regierung in Brüssel bräuchte man keine Bundesregierung mehr.

Für Guérot ist Europa schon immer positiv besetzt. 1979, im Alter von 15 Jahren, pilgert sie während einer gemeinsamen Deutschlandreise zusammen mit ihrer Schulfreundin Ursula Tehlen über die Rheinbrücke von Kehl nach Straßburg. Der französische Grenzposten hält sie auf, weil er es komisch findet, dass zwei so jungen Frauen mit Rucksäcken die Grenze passieren. Dann stehen sie vor dem Gebäude des Europaparlaments in Straßburg und finden es toll.

Sie erzählt diese Geschichte: Ihre Oma floh vor der roten Armee aus dem schlesischen Oppeln in die Nähe von Dresden und verließ schließlich die DDR, um im katholischen Grevenbroich bei Düsseldorf zu landen. Über die Zugewanderte hätten die Nachbarn oft gesagt: »Die ist Flüchtling. Die kann keinen Karneval und keine Kirmes.« Ihre Oma kam aus einem andern Land, die Welt ist größer als Deutschland – das wurde Guérot klar. Darüber hinaus gab ihre Oma ihr eines Tages den Hinweis: »Ulrike, du musst Französisch lernen, das ist die Sprache der Liebe und der Musik.« Über Frankreich sei sie dann, erklärt Guérot, zu Europa gekommen.

Das große Kino der Weltpolitik

Nach dem Abitur geht sie als Au-Pair nach Paris. Später bekommt sie Stipendien, um in der französischen Hauptstadt zu studieren, unter anderem an der Elitehochschule Sciences Politiques. 1992 schießt sie eine Stelle bei Karl Lamers in Bonn, dem damaligen außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Diese Tätigkeit fällt in die Zeit, in der Lamers und Wolfgang Schäuble ihr berühmtes Papier zur Zukunft Europas schreiben – darin viele Vorschläge für das schnellere Zusammenwachsen der EU. Danach arbeitet Guérot für Jacques Delors, den einflussreichen Expräsidenten der EU-Kommission.

Sie heiratet den angehenden französischen Diplomaten Olivier Guérot und gehört zum Pariser Großbürgertum. In ihren Erzählungen lässt sie Dutzende klingende Namen fallen – von Professorinnen, Schriftstellern und Politikern. Sie genießt es, Mitwirkende im, so sagt sie, »großen Kino der Weltpolitik« zu sein. In ihren Erzählungen springt sie gerne – flüssig dreisprachig – zwischen französischen, englischen und deutschen Redewendungen hin und her. Sie ist gebildet, schnell. Manchmal zu schnell. »Ich habe verstanden, dass ich manchen Leuten Angst mache«, sagt sie selbst.

Im Foyer des Stuttgarter Schauspielhauses können die Besucher einen Zettel an die Wand hängen, auf den sie schreiben, was »Europa heute für mich bedeutet«. Die positiven Stichwörter lauten zum Beispiel: »Wir«, »Europa der Regionen«, »Immer den Pass vergessen«. Die negativen: »Arroganz« oder »Zusammenbruch – weil ein Vielvölkerstaat noch nie funktioniert hat«.

Zusammenhalt als einziger Weg

Thomas Schmid, ehemaliger Herausgeber der Springer-Zeitung Die Welt, nannte Guérot bereits eine »Europa-Erzwingerin«. Er mahnt, wer den »großen Sprung« in einen Superstaat versuche, werde es sich mit den Menschen verscherzen: »Wenn sie Bestand haben will, muss die EU effektiver und bescheidener werden.«

Auch Karl Lamers, Guérots ehemaliger Arbeitgeber, sagt: »Die Gründung eines europäischen Bundesstaates halte ich derzeit für ausgeschlossen und insofern auch für falsch. Zum jetzigen Zeitpunkt braucht Europa eine Konstruktion, mit der es sich behaupten kann gegenüber den ungewöhnlichen Herausforderungen.« Und Daniel Röder, der Urheber von Pulse of Europe, merkt an: »Hätten wir die Abschaffung des Nationalstaats gefordert, hätten wir nicht so viele Menschen auf die Straße bringen können.«

Was sagt Guérot also ihren Kritikern, was kann ihr gewünschtes Europa besser als der Nationalstaat? Erstens: Stärkung der heimatlichen Regionen. Zweitens: eine wirkliche demokratische Kontrolle der EU. Außerdem sieht sie eine Chance für eine neue soziale Sicherheit, wenn beispielsweise die europäische Arbeitslosenversicherung etabliert würde. Im Schauspielhaus assistiert nun Cohn-Bendit: »In dreißig Jahren gehört kein EU-Staat mehr zur G7-Gruppe der größten Industrieländer.« Deutschland, Frankreich, Italien hätten dann gegenüber China, Indien und den USA nichts mehr zu melden – es sei denn, sie halten zusammen.

Ein neuer Bürgerkrieg

Guérot selbst sieht sich in einer historischen Auseinandersetzung, in einem »neuen Bürgerkrieg«. So hat sie ihr jüngstes Buch genannt. Sie meint: »Wir müssen die Idee durchfechten, um die Mehrheit zu erreichen.« Damit das klappt, wird sie weitere Schauspielhäuser besuchen müssen.