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Wie fühlt sich Gerechtigkeit an?

■ Roman Polanski stellt mit Der Tod und das Mädchen die ewige Frage nach Schuld und Sühne

Striemen zeichnen ihren Rücken, Brandmale die Brüste, in ihrer Scheide verborgen sind die Folgen der Stromschläge, die Spuren der Vergewaltigungen durch den Folter-Arzt wird niemand je zu Gesicht bekommen. Paulinas Geschichte ist eine der Narben. Sichtbar oder unsichtbar erinnern sie gleichzeitig an die Wunde und ihre Heilbarkeit.

Es sind die tiefen Verletzungen, die ein totalitäres Regime – ob in Lateinamerika oder anderswo – den Menschen zufügt, und die Heilungsversuche des Rechtsstaats, von denen Ariel Dorfmans Theaterstück Der Tod und das Mädchen erzählt. Vielleicht sind diese Wunden in gewisser Weise sogar überall, wie der Tod, den das Mädchen im von Schubert vertonten Gedicht im Spiegel erblickt.

Polanski hält sich bei der Verfilmung des Dramas an die strengen formalen Vorgaben. Innerhalb einer Nacht, in einem einzigen, nur durch das ferne Blinken eines Leuchtturms mit der bewohnten Welt verbundenen Raum, entscheidet sich, ob Paulina (Sigourney Weaver) wieder eine „ganze“ Person unter anderen werden kann – und ob diese eine Beziehung zu ihr finden.

Nach langen Jahren des Schweigens bricht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit so plötzlich und doch vorhersehbar hervor wie der Donner nach einer nicht enden wollenden Schwüle. Gleichzeitig willkürlich und überzeugend ist auch Paulinas Behauptung, Dr. Miranda (Ben Kingsley), ein fremder, später Gast, sei ihr Folterer. Geruch, Stimme und eine Kassette mit der Vergewaltigungs-Begleitmusik, Der Tod und das Mädchen von Schubert, sind ihr Beweis genug. Sie schlägt den Arzt bewußtlos, fesselt, knebelt ihn und legt das Band ein. Die Musik weckt das Gesetz, vertreten durch den Ehemann (Stuart Wilson), einen Rechtsanwalt, der die Prozesse gegen die Verbrecher des ehemaligen Regimes leiten soll, und zu dessen Schutz Paulina die Folterungen über sich ergehen lassen mußte. Doch sein Appell an ihr demokratisches Rechtsempfinden ist vergeblich: „Tod oder Geständnis“ lautet die Prozeßordnung.

Schuldig oder unschuldig, gerecht oder ungerecht? Wie der Anwalt scheitern wir an diesen Fragen. Die Ambivalenz Kingsleys in Mimik und Worten zwischen Familienvater und Folterer verhindern jede Parteinahme, unterstützt von einer Kamera (Tonino Delli Colli, filmte mit Pasolini und Fellini), die von einem Gesicht zum anderen fährt, den schwankenden Stimmungen durch wechselnde Entfernungen und Einstellunen folgend. Immer behält sie alle drei in Sichtweite, denn Paulina hält mit der Pistole die Blicke in der Hand. Und führt die Suche nach Wahrheit ad absurdum.

Bis der Arzt mit ein paar dreisten Worten auch noch die Möglichkeit einer Gerechtigkeit von der Klippe stürzt.

May Mergenthaler

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