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Wie demokratisch wird ein Staat Palästina?

PalästinenserInnen in den noch von Israel besetzten Gebieten fürchten, daß mit der PLO-Führungsriege um Jassir Arafat demnächst in Jericho und im Gaza-Streifen neue autoritäre Verhältnisse einziehen werden  ■ Aus Jerusalem Julia Albrecht

„Es gibt Staaten, da gibt es ein gutes und gerechtes Recht. Aber manchmal passiert es, daß die Regierung kommt und sagt: Wir lieben unser Recht, und es ist ein gutes und gerechtes Recht. Aber jetzt müssen wir es außer Kraft setzen, weil wir die Feinde im Staat bekämpfen müssen. Dann muß der Richter zu der Regierung sagen: Geht weg! Wir brauchen das Recht. Wir können das Land nicht gegen alle Feinde sichern, aber wir können das Land vor uns selbst schützen, indem wir ganz nach oben das Recht stellen.“

Die Sorge, daß sich die Macht an die Stelle des Rechts setzen könnte, ist nur eine von vielen, die die Palästinenser im Gaza-Streifen und in der Westbank, umtreibt. Ibrahim Barghouti, Rechtsanwalt in Ramallah, hat sich die Geschichte ausgedacht, um die Gefahren, die der palästinensischen Gesellschaft drohen, anschaulich zu machen. Konkret gilt die Sorge der Führungsriege der PLO, insbesondere Jassir Arafat. Die Menschen fürchten, daß er nach seinem Einzug in Jericho Wahlen zu einer palästinensischen Selbstverwaltung entweder verschieben oder gar nicht abhalten wird, daß er die Menschenrechte nicht achten und sich nicht für Freiheit und Gleichheit einsetzen wird: daß ihm an einem demokratischen Palästina nicht gelegen ist.

„Wir haben keine Erfahrung mit Demokratie, wir kennen sie nur aus der Ferne, haben sie aber nie am eigenen Leibe gespürt“, ist einer der häufigsten Sätze, die einem gerade jene sagen, die sich im Moment engagiert mit dem Thema Demokratie und Menschenrechte befassen. Dieser Satz, sosehr er stimmt, so sehr ist er auch Rhetorik. Die Menschen, die sich um die Zukunft sorgen – Juristen und Dozenten, Menschen- und FrauenrechtlerInnen, ehemalige PLO- Funktionäre wie Haidar Abdel- Schafi und andere – wissen genau, welche Rechte für eine Demokratie unentbehrlich sind. Sorge bereitet ihnen die Frage, wie man demokratische Rechte umsetzt. Schon jetzt haben sich rund fünfzehn Menschenrechtsorganisationen zusammengetan, um ihre Kräfte zu bündeln und sicherzustellen, daß sie auch unter einer palästinensischen Führung ungehindert und rechtlich anerkannt arbeiten können.

„Jassir Arafat“, sagt Giorge Giacaman, Dozent an der Universität von Bir Zeit, „ist ein absoluter Herrscher. Es gibt nur ganz wenige Einschränkungen seiner Macht. Er ist ein Autokrat par excellence.“ Anlaß zur Sorge bereitet schon jetzt das geplante palästinensische Sicherheitssystem. Noch bevor irgendwelche staatlichen Strukturen erkennbar sind, scheint festzustehen, daß die wichtigste Einrichtung die „Zentralen Sicherheitskräfte“ werden, eine Art Nationalgarde, die aus bewaffneten Einheiten von Arafats eigener PLO- Fraktion Fatah zusammengestellt werden soll. Solche Vorhaben des PLO-Chefs, so Giorge Giacaman, würden vom Ausland und vom Vertragspartner Israel unterstützt. Dort interessiere man sich nicht für ein demokratisches Palästina, sondern allein für Stabilität. „Stabile Länder“, sagt Giacaman, „sind nicht notwendigerweise demokratisch.“ Zumal wenn es sich um Entwicklungsländer handele, seien autoritäre Systeme sehr viel stabiler, denn eine „Demokratie gibt der Opposition eine Chance“. Als Beleg für das Desinteresse Israels an einem demokratischen Palästina zitiert Giacaman den israelischen Außenminister Schimon Peres, der sagte: „Das Abkommen ist hinfällig, wenn bei den ersten Wahlen die fundamentalistische Hamas gewählt wird.“

„Daß eine palästinensische Polizei in der Deklaration einen so wichtigen Platz einnimmt“, sagt die vor kurzem zurückgetretene PLO-Sprecherin Hanan Aschrawi, „bereitet mir Sorge.“ Es sei gefährlich, wenn die Palästinenser denken, eine starke Polizei sei wichtig. „Sie sollten es besser wissen.“ Die letzten 26 Jahre unter Besatzung hätten gezeigt, daß Unterdrückung und Zwang nicht funktionierten. „Das bringt keine Sicherheit, es bringt Widerstand.“

Auch aus Arafats eigenen Reihen hört man kritische Töne. Als Arafat im Dezember den Geschäftsmann Mansour asch-Schawa zum künftigen Bürgermeister der Stadt Gaza designierte, verurteilten nicht nur Gegner des „Gaza-Jericho-Abkommens“ die Entscheidung. Auch Fatah-Leute zeigten sich darüber empört, daß sie nicht konsultiert worden waren. Und auch in der Fatah-Niederlassung in Jericho, jenem Büro, das sich rühmt, einen heißen Draht zur PLO-Zentrale in Tunis zu haben, hört man vorbeugende Kritik. „Wir haben gegen die Besatzer gekämpft, und wir werden gegen Arafat kämpfen, wenn er uns ähnlich behandeln sollte wie sie“, meint Abd-al-Karim Sidr, einer der lokalen PLO-Köpfe. Die erste schlechte Erfahrung haben die Fatah-Leute von Jericho bereits gemacht. Ohne ihr Wissen war eine hochrangige PLO-Delegation vor Ort, um mit den israelischen Sicherheitskräften zu sprechen.

Aber das sind nicht die einzigen Probleme. Mindestens ebenso schwer wiegt die Ambivalenz, die das Abkommen selbst schafft. Einerseits werden wichtige staatliche Aufgaben wie das Bildungswesen, Kultur, Soziales, Gesundheit und vor allem die innere Sicherheit an die Palästinenser übertragen. Andererseits werden der Gaza-Streifen und Jericho kaum Souveränität erhalten. Die äußere Sicherheit verbleibt in den Händen der Israelis. Die Palästinenser werden nicht alleine darüber entscheiden dürfen, wer ihr Land betritt und wer es verläßt. Damit ist eines der wichtigsten Felder für ein autonomes Gemeinwesen ausgeklammert: die Entscheidung darüber, wer in diesem Gemeinwesen leben darf und wer nicht. Und auch die innere Sicherheit, die die Palästinenser mit ihrer „starken Polizei“ gewährleisten sollen, wird nur partiell übertragen. Ausgeklammert bleiben die israelischen Siedlungen in der Westbank und dem Gaza-Streifen mit ihrer zum Teil ultrarechten Bevölkerung, die unter dem Schutz israelischer Soldaten einen Staat im Staate bilden werden.

Nicht nur angesichts der sich hinziehenden Verhandlungen über die Umsetzung des Abkommens macht sich unter den Palästinensern und den besetzten Gebieten Niedergeschlagenheit breit. „Wir sind in einem Stadium des Verlustes und der Trauer“, sagt die Sozialarbeiterin und Dozentin an der Bethlehemer Universität Nadera Kevorkian. „Die Deklaration ist der Verlust eines Traumes. Unser Traum war der gleiche wie der der Israelis. Wir wollten dieses Land. Die Unterschrift ist der Verzicht auf diesen Traum.“

Während die Menschen in der Westbank und im Gaza-Streifen noch über die Gefahren sprechen, die die Zukunft bringen mag, und Pläne schmieden, wie der Wunsch nach einem demokratischen Palästina Wirklichkeit werden könnte, ist man anderenorts über das Stadium des Nachdenkens bereits hinaus. Zum 31. Dezember hat Arafat den Entwurf einer vorläufigen Verfassung vorgelegt, die mit demokratischen Grundsätzen nur Äußerlichkeiten gemein hat. So ist zwar formal eine Gewaltenteilung festgelegt, ist von Exekutive, Legislative und Judikative die Rede, jedoch sind die wichtigsten Aufgaben und Kompetenzen in den Händen des „Präsidenten“ gebündelt. Und dieser soll – ohne daß dazu Wahlen erforderlich wären – der „Vorsitzende des Exekutivkomitees“ der PLO werden, also Arafat. Ihm untersteht die Polizei, und ihm ist die gesamte autonome Zivilverwaltung, wie sie das „Gaza- Jericho-Abkommen“ vorsieht, direkt verantwortlich.

Eine Legislative existiert in dem Verfassungsentwurf zwar in Form einer Kapitelüberschrift. Tatsächlich sollen aber auch deren Aufgaben für eine Übergangszeit von fünf Jahren von der eingesetzten Exekutive, dessen oberster Kopf eben Arafat ist, ausgeführt werden. Im Klartext bedeutet das, daß sowohl die Rechtssetzung wie auch sämtliche Aktivitäten der Exekutive in den kommenden fünf Jahren direkt Arafat unterstehen werden. Erst wenn „die Legislative gewählt“ worden ist, wird sie im eigentlichen Sinne ihre Aufgabe übernehmen. Allerdings findet an keiner Stelle Erwähnung, wann Wahlen unter welchen Modalitäten abgehalten werden sollen. Das verwundert insbesondere deshalb, als daß das „Gaza-Jericho-Abkommen“ Wahlen innerhalb von neun Monaten vorsieht. Und auch in dem Katalog der individuellen Rechte, in dem viel Gutklingendes Erwähnung findet, wurde doch vergessen zu betonen, daß nicht nur alle Menschen, sondern auch Frauen und Männer gleich sind.

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