: Wie bitte?
■ DGB: Lärmschwerhörigkeit wird nicht immer als Berufskrankheit anerkannt
Die meisten Behinderungen sind sichtbar – Schwerhörigkeit ist es nicht. Selbst die Betroffenen merken oft zunächst nicht, daß sie an Lärmschwerhörigkeit erkrankt sind, daß ihnen durch den Lärm am Arbeitsplatz das Hören vergeht. Und doch wird Lärmschwerhörigkeit nicht in allen Fällen als Berufskrankheit anerkannt, kritisierte der DGB letzte Woche.
Seit 1977 erkennt die Berufskankheitsverordnung Lärmschwerhörigkeit zwar theoretisch uneingeschränkt als Berufskrankheit an, aber rein praktisch scheitert die Anerkennung nach Angaben der Gewerkschaften in vielen Fällen. Wer sich heute auf Lärmschwerhörigkeit prüfen läßt, muß einen langen Fragekatalog und diverse Tests über sich ergehen lassen. Wilhelm Riddel, ein von der Schwerhörigkeit Betroffener, berichtete, wie schwierig es sei, den umfangreichen Fragebogen zu beantworten, da Lärmschwerhörigkeit ein schleichender Prozeß, ohne definierbarem Anfang. Außerdem habe er zunächst seine Schwerhörigkeit verdrängt.
Doch die Probleme häuften sich: KollegInnen hielten ihm arrogantes Verhalten vor, weil er scheinbar nicht zuhörte, und auch im privaten Lebensbereich geriet alles durcheinander. Riddel ging zum Gehörtest. Der gelernte Bauschlosser arbeitet seit Anfang der 60Jahre bei der Bremer Straßenbahngesellschaft (BSAG). In einem Lärmumfeld von 105 Dezibel - zum Vergleich: ein Presslufthammer erreicht bis zu 100 Dezibel - hat Riddel zwar mit Ohrschutz gearbeitet, doch die klebrigen Ohrenstöpsel blieben auch mal auf der Werkbank liegen, wenn nur ein kurzer Handgriff gemacht werden mußte.
Dauerlärm verursacht nicht nur Kopfschmerzen, sondern richtet schwere und bleibende Schäden an: Er schädigt die Haarzellen im Ohr, bei großer Geräuschbelastung sterben sie ab und regenerieren sich nicht – ein bleibender Gehörschaden ist die Folge.
Zunächst nimmt die Hörfähigkeit für hohe Töne ab. „Der typische Lärmschwerhörige hört Sprache und Musik, so wie wir es früher von den Volksempfängern gehört haben: Verzerrt“, sagte Werner Schimanski, Landessozialrechtssekretär a. D.. Schon eine tägliche Belastung von nur einer viertel Stunde bei 105 Dezibel wird als kritisch eingestuft. Am Ende des Arbeitslebens sind zum Beispiel von allen Personen, die einer häufigen Geräuschbelastung von 100 Dezibel ausgesetzt worden sind, 95 Prozent hörgeschädigt. Wegen der hohen Lärmbelastung bei Arbeitsplätzen in den Werften müßten in Bremen eigentlich besonders viele Fälle von Lärmschwerhörigkeit angezeigt worden sein, meint Heino Slupinski, staatlicher Gewerbearzt in Niedersachsen.
Aber nur 60 Prozent aller Schwerhörigen werden untersucht. Slupinski kritisierte die verschiedenen Tests als irreal: Mit Kopfhörern und ohne störenden Nebengeräuschen könnten die Lärmgeschädigten nämlich viel besser hören. Von 70 Prozent der berufsbedingten angezeigten Fälle würden letztendlich nur rund 10 Prozent von der Berufsgenossenschaft anerkannt werden.
Auch Manfred Husmann, Richter am Bundessozialgericht stellte fest, daß alle Testuntersuchungen ungenügend seien. Außerdem hätten die Hals-, Nasen- , und Ohren-Kliniken in Bremen nicht genügend medizinisches Gerät, um die Prüfungen zur Lärmschwerhörigkeit durchzuführen. Von 1974 bis 1983 war Lärmschwerhörigkeit die am häufigsten angezeigte und entschädigte Berufskrankheit. 1983 erhielten 25.500 Personen eine Rente wegen ihrer Lärmschwerhörigkeit. Seitdem ist die Zahl zurückgegangen. Zu unrecht. wie Kritiker meinen.
Vivianne Agena
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