: Wie Schimmel auf der Haut
■ Zum dritten Mal in Berlin: Die Tattoo Convention / Als Kunst wollen Tätowierer ihre Zunft verstanden wissen, doch die verschwindet oft im welken Fleisch als grünblaues Einerlei
Gewichtige Biker mit Bierbäuchen und Rauschebärten, Hardrockfans, Knackis auf Hafturlaub, tätowierte Psychodelic-Freaks und Nadelfetischisten drängten sich gestern in Neuköllns Huxley's Neuer Welt. Dort stellten, anläßlich der dritten Deutschen Tattoo Convention, am letzten Wochenende mehr als 60 Tätowierer ihre Kunst vor. Denn als nichts Geringeres wollen sie ihr Handwerk verstanden wissen. Gewiß ist nicht alles Kunst, was die Anhänger der farbigen Hautgravur auf ihrer zur Galerie umgenadelten Körperoberfläche spazierentragen.
Der Typ, dessen Gesicht über und über mit keltischen Ornamenten bedeckt ist, sieht eher erschreckend aus und ähnelt fatal dem polynesischen Schrumpfkopf in der Glasvitrine am hinteren Ende der Halle, den das europäische Tätowiermuseum in Amsterdam leihweise zur Verfügung gestellt hat. Und nicht wenige der so Bemalten tragen Körperzeichnungen auf dem oftmals welken Fleisch, die im Laufe der Jahre verblaßt und im Bindehautgewebe verrutscht sind. Aus der Ferne betrachtet, sieht das aus wie Schimmel auf der Haut.
Stefan vom South-West-Studio in Wiesbaden weiß, wie es zu derartigen „Unfällen“ kommen kann. Er erklärt, daß die Tätowiertechnik früher unzulänglich war und man häufig zu tief gestochen habe. Seitdem seien die verwendeten Materialien verbessert und weiterentwickelt worden. Jedoch wisse kein Mensch, wie man den heutigen Stand der Tattoo-Technik in einigen Jahren beurteile, räumt er freimütig ein.
Doch hier und heute zeugen die Arbeiten der anwesenden Künstler aus insgesamt 18 Nationen von einem hohen Grad an Professionalität. Ob Mike Davis aus San Francisco, D „Ace“ Daniels aus Kanada oder die Leute von „Hanky- Panky-Tattoo“ aus Amsterdam: Alles, was in der Szene Rang und Namen hat, ist auf der zum dritten Mal in Berlin veranstalteten Messe anzutreffen. Und zum ersten Mal nehmen auch Tattoo-Künstler aus dem osteuropäischen Raum teil, Hautritzer aus Rußland, Ungarn, Polen und Litauen.
Ab 50 Mark kann man sich bizarre Totenschädel, denen Würmer aus den Augenhöhlen kriechen und aus deren zum letzten Schrei aufgerissenen Mündern sich Wikingerornamente winden, aufbringen lassen. Zwar ist die Tätowierung als eigenständige Kunstform bislang nur in Japan anerkannt, dennoch dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß gute Tattoos heute auch hierzulande zum Bestandteil der Kunst geworden sind. Ähnlich zu anderen heute immer mehr in Erscheinung tretenden darstellenden Ausdrucksformen wie Grafitti und Comics, entsprechen sie einer allgemeinen Tendenz zur individuellen Verständigung mit Hilfe von Kürzeln und Zeichen. Seitens der Veranstalter ist man vor allem bemüht, das Tattoo gesellschaftsfähig zu machen. Was jahrhundertelang Unterwelt, Soldaten und die Mitglieder der christlich-abendländischen Seefahrt stigmatisierte, hat längst Einzug in andere gesellschaftliche Kreise gefunden. So mancher Yuppie löst die existentiellste aller Fragen, nämlich die nach seiner eigenen Individualität (Wer bin ich? Wenn ja, wie viele?) mit einer ausgefallenen Tätowierung. Und mancher Banker soll, vertraulichen Aussagen zufolge, den hinfälligsten Teil seiner babydaumengroßen Männlichkeit mit einer tätowierten Mickymaus aufpeppen. Persönlichkeitsersatz, der für Geld zu haben ist.
Im Zeichen dieser Akzeptanz von Tätowierungen ist das Interesse bei vielen Menschen an dieser Kunstform längst über das Stadium vorsichtiger Bewunderung hinaus gediehen. Was allerdings nichts daran ändert, daß vorwiegend „Hells Angels“ und Heavy- Metal-Fans auf der Convention rumlungern, um sich an den zahlreichen Ständen mit monoton surrender Geräuschkulisse – bssssssstbsssssst-bssst – nach neuen Motiven auf der nach unten immer offenen Geschmacksskala umzuschauen.
Zu der Zeit, als Gut und Böse noch keinem schwerwiegenden Zweifel unterlagen, dienten Tätowierungen (das Wort stammt von dem polynesischen Begriff „tatau“, der für Zeichen oder Mal steht) dazu, Stammeszugehörigkeit oder soziale Stellung in der Gruppe zu kennzeichnen. Außer einer schmückenden Funktion hatte es häufig auch religiösen Charakter und wurde bei Initiationsritualen aufgetragen. Tätowierungen sind im europäischen Raum schon seit der Antike bekannt. Selbst Eiszeit-Ötzi, der populärste aller antiken Ostmärker, war tätowiert.
Die Ausstellung über die Geschichte der asiatischen Tätowierkunst, unter deren Motto die diesjährige Convention steht, zeigt detailliert Werke, Techniken und vor allem die lange Tradition der Körperbemalung im asiatischen Raum. Die Ausstellung kam in Zusammenarbeit mit dem Museum für Völkerkunde Berlin-Dahlem und dem europäischen Tätowiermuseum in Amsterdam zustande. Begleitet wird die Ausstellung durch Fachliteratur, Filme und Videos zum Thema. Peter Lerch
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