Wie Bildungsarmut entsteht: Neue Studien über Bildungsverlierer
Bildungsverlierer sollen mit einer neuen Methode erfasst werden: Längsschnittstudien, die aufzeigen, wann und wie Bildungsarmut entsteht.
Die Kinder sitzen in Grüppchen an den Tischen. Sie beugen sich über die Plakate, an denen sie gerade arbeiten. Die Lehrerin ist an dem Lernprozess nur als Beobachterin beteiligt. Die Schüler steuern ihr Lernen in diesem Moment selbst. Sie blättern in aufgeschlagenen Bücher. Ein Junge geht zu einer Bücherkiste in der Mitte des Raums. Nach Rücksprache und Beratung mit seiner Lehrerin sucht er sich das Buch heraus, das die Informationen enthält, die er braucht.
Was in dieser fünften Klasse einer integrierten Gesamtschule in Niedersachsen schon ganz gut klappt, ist leider für viele 15-Jährige noch immer ein ernsthaftes Problem: Phasen selbstständigen Lernens, hier das verstehende Lesen. Während die zehnjährigen Schüler bei der letzten Grundschulstudie darin gut abschnitten, liegen die 15-jährigen Teilnehmer der letzten Pisa-Studien weiter im Mittelfeld.
Woran liegt es, dass die Leistungen der Schüler in wenigen Jahren nach der Grundschule so stark nachlassen? Auf dem Weg zu einem qualifizierenden Schulabschluss gehen zu viele Schüler verloren. Das ist seit dem Fachkräfteschock auch bei der Bundesregierung angekommen. Dem will sie abhelfen - nicht gleich mit Taten, sondern zunächst mit einem eigenen "Rahmenprogramm zur strukturellen Förderung der empirischen Bildungsforschung in Deutschland". Der Bund will dafür 120 Millionen Euro investieren.
Die empirische Bildungsforschung soll sich besonders auf die Bereiche Schul- und Unterrichtsentwicklung, die individuelle Förderung von SchülerInnen und auf die Lehrerausbildung konzentrieren. Herzstück des Programms ist ein sogenanntes nationales Bildungspanel, das ist eine Längsschnittstudie, welche die Bildungsverläufe von Schülern über lange Zeit verfolgen will. Studien wie Pisa oder Iglu sind nur Momentaufnahmen. Der Bamberger Soziologieprofessor Hans-Peter Blossfeld, der die Längsschnittstudie leitet, wird die Daten an fünf Schnittstellen des deutschen Bildungssystems erheben: in der Vorschule, am Ende der Grundschule, in der neunten oder zehnten Klasse, am Studienanfang und später im Berufsleben. Die Testpersonen werden jährlich befragt.
Die Idee dahinter: Wenn zwei Schüler in der Grundschule beispielsweise in Mathe gleich gut sind und später auf verschiedene Schulformen wie Hauptschule oder Gesamtschule gehen, dann kann man vergleichen, wie sich die Schulform auf ihre Entwicklung in diesem Fach auswirkt. Oder: Zwei Schüler, die früher in etwa gleich gut und in derselben Klasse waren, besuchen später zwar beide eine Realschule, die Lehrmethoden der Schulen unterscheiden sich aber stark. Das eine Kind wird beispielsweise individuell gefördert, wenn es zurückhängt, das andere nicht. Wie wirkt sich das auf die Bildungskarrieren der beiden aus?
Laut dem Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) will man so herausfinden, wie das Bildungssystem besser und gerechter werden kann. Das ist auch bitter nötig. Wie die OECD-Studien immer wieder zeigen, hängen Schulversagen und sozialer Hintergrund in Deutschland direkt zusammen - stärker als in anderen Ländern. Die Schulen sortieren Schüler aus, statt sie zu fördern. Und die Zahl der Benachteiligten steigt.
Diese Entwicklung ist aus Gründen des sozialen Zusammenhalts ein Problem. Bezieht man aber die demografische Entwicklung ein, wird sie zur Krise. Während die Gesamtzahl der Schüler abnimmt, steigt die Zahl der Abiturienten eines Jahrgangs nur marginal. Im internationalen Vergleich gibt es zu wenig Studienanfänger und eine viel zu hohe Zahl an Studienabbrechern. Während sich Deutschland zunehmend zu einer Gesellschaft entwickelt, deren Reichtum auf Wissen basiert und die daher Hochqualifizierte dringend braucht, wächst gleichzeitig die Zahl derjenigen, die vom Bildungssystem systematisch am weiteren Wissenserwerb gehindert werden.
Das nationale Bildungspanel soll ans Licht bringen, mit welchen Methoden und in welchen Schulformen Schüler erfolgreich lernen können. Noch steht die Finanzierung allerdings nicht. "Erst wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft sagt: Ja, dies ist ein tragfähiges Konzept, gibt es von ihr die Gelder dafür", meint Heike Solga, Leiterin der Forschungsabteilung "Ausbildung und Arbeitsmarkt" am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin. Wenn alles gut geht, kann die Datenerhebung an den Schulen im Herbst 2009 losgehen. Mit ersten Forschungsergebnissen ist frühestens in fünf bis sechs Jahren zu rechnen.
Dass es den Verantwortlichen diesmal ernst ist mit der Bildungsforschung, zeigt die Liste der Institutionen und Forscher, die an diesem Rahmenprogramm beteiligt sind: Sie liest sich wie ein Whos who der deutschen Bildungsforschungslandschaft. Gert G. Wagner, Leiter des Sozioökonomischen Panels und Vorsitzender des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten, erwartet von den wissenschaftlichen Untersuchungen wichtige neue Erkenntnisse für die Politik und Politikberatung. Dass die Ergebnisse dann auch eines Tages umgesetzt werden, kann man allerdings nur hoffen. Eine gesetzliche Verpflichtung dafür gibt es nicht, die Länder sind zuständig. Wagner gibt sich aber optimistisch: "Wissenschaftler meinen immer, es müsste schneller gehen. Aber eine gewisse Vorsicht bei der Umsetzung der jeweils aktuellsten Forschungsergebnisse ist vernünftig", meint er.
Heike Solga ist da skeptischer. "Ob die Ergebnisse auch politisch umgesetzt werden, ist noch einmal eine andere Frage. Die Pisa-Studie hat ja gezeigt: Jeder liest das heraus, was er braucht und was seiner Ideologie entspricht." Seit dem Streit um die neuesten Pisa-Ergebnisse setzen sich einige Kultusminister wie Niedersachsens Bernd Busemann (CDU) und Baden-Württembergs Helmut Rau (CDU) öffentlich dafür ein, dass Deutschland auf lange Sicht aus der Pisa-Studie aussteigt - da es bald eine eigene nationale Studie gebe. Als Pisa-Ersatz ist das Nationale Bildungspanel allerdings nicht gedacht, mahnen Experten. Sondern als Wissenspool für zukünftige Veränderungen.
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