: Widersprüche über Opfer bei Orahovac
■ EU-Delegation findet bei ersten Nachforschungen keine konkreten Hinweise auf Existenz von Massengräbern. Albanische Medien berichten über Hunderte Tote
Wien/Priština (dpa/AP/AFP/rtr/taz) – Eine Delegation der Europäischen Gemeinschaft (EU) ist gestern Hinweisen auf Massengräber in der kosovo-albanischen Stadt Orahovac nachgegangen. Konkrete Beweise für deren Existenz seien nicht gefunden worden, sagte Walter Edenberg, Sprecher der EU-Beobachtermission im Kosovo. Bei einer ersten Untersuchung vor Ort seien zehn mit Namen versehene Einzelgräber gefunden worden. Überdies hätten Einheimische die Berichte über Massengräber nicht bestätigt.
Die taz hatte gestern unter Berufung auf Augenzeugen von der Existenz zweier Massengräber nahe Orahovac berichtet. Dort sollen nach den Kämpfen serbischer Einheiten mit Kosovo-Albanern vor etwa zwei Wochen Hunderte von Kosovo-Albanern verscharrt worden sein, unter ihnen rund 400 Kinder. Daraufhin hatte die EU gestern ein zweiköpfiges „Spezialteam“ nach Orahovac entsandt, um sich ein Bild zu machen.
Journalisten vor Ort berichteten, sie hätten zwei große Erdhügel gesehen, auf denen sich 37 zum größten teil mit Nummern versehene Schilder befänden. Ein Sprecher der serbischen Polizei, die die Journalisten an den Ort geführt hatte, erklärte, es handle sich um den muslimischen Friedhof von Orahovac. Dort seien allerdings auch Leichen von Befreiungskämpfern der UCK begraben worden. Bei den Kämpfen habe es 58 Opfer gegeben, von denen 40 beerdigt worden seien.
Demgegenüber berichtete die in Priština erscheinende größte albanische Tageszeitung, Koha Ditore, daß in Orahovac mindestens 36 frisch ausgehobene Gräber entdeckt worden seien. Auf die Gräber seien Tierkadaver und Müll geschüttet worden, hieß es weiter. Der kosovo-albanische Politiker Veton Surroi erklärte in der Provinzhauptstadt Priština, bis zu 200 Zivilpersonen seien bei den viertägigen Kämpfen um die ehemalige Hochburg der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) getötet worden. Einige seien in einer Moschee, wo sie Zuflucht gesucht hatten, ermordet worden. Ein Kamerateam der Fernsehnachrichtenagentur APTV entdeckte gestern vor dem Dorfrand rund 50 Erdhügel, auf denen Stöcke mit Namensschildern oder nur mit Nummern steckten.
Auch eine Delegation in Belgrad akkreditierter Diplomaten reiste nach Orahovac, um den Berichten über die Massengräber nachzugehen. Sollten sich die Berichte bewahrheiten, wäre dies eine „ernste Zuspitzung der Krise“, sagte der amtierende EU-Ratspräsident und Wiener Außenminister Wolfgang Schüssel.
Wie ein Sprecher des Außenministeriums in Wien mitteilte, ist Österreichs Botschafter in Belgrad, Wolfgang Petritsch, beauftragt worden, sich mit dem jugoslawischen Außenministerium, dem Leiter der Internationalen Beobachtermission (ICMM) und den Kollegen aus Rußland und den USA auf eine Besichtigung des Ortes zu verständigen. Tagesthema Seite 3
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen