Geheimdienste Es gibt neue Dokumente dazu, wie die Bundesregierung abgehört wird. Aber warum kommen sie aus Berlin?
: Wikileaks leckt wieder

von Martin Kaul

So ist das ja mit Stars und Sternchen. Was wohl Da­niel Küblböck heute macht?

Einst wurde der Popsänger durch den TV-Wettbewerb „Deutschland sucht den Superstar“ bekannt. Auch wer ihn hasste, musste ihn registrieren. Heute, so erzählt man sich, gibt der einstige Teenie-Star Kleinkonzerte vor Jugendlichen. Bei dem begnadeten Schauspieler Robin Williams war der Ausgang noch dramatischer. Der Weltstar nahm sich das Leben. Er hat das Auf und Ab der Aufmerksamkeiten nicht verkraften können. Und der verwegene Julian Assange? Wikileaks?

Fast muss man in diesen Tagen den Eindruck haben, dass da ein Toter wieder zu den Lebenden erwacht. Fast.

Mit neuen Enthüllungen über die NSA-Überwachung sorgte die Whistleblower-Organisation in den letzten zwei Wochen gleich zweimal für Aufsehen. Am Mittwoch veröffentlichte Wikileaks 69 Telefonnummern aus deutschen Ministerien, die auf Überwachungslisten des US-Geheimdienstes NSA gestanden haben sollen. Die Festnetznummern aus Bonn und Berlin führten zu den Telefonen von Ministern und Staatssekretären.

Gezielt platzierte Leaks

Der frühere Finanzminister und heutige SPD-Bekämpfer Oskar Lafontaine war bereits darunter wie der Exwirtschaftsminister Werner Müller. Auch Barbara Hendricks. Die USA sollen das Telefon der heutigen Umweltministerin überwacht haben, als diese noch Staatssekretärin im Finanzministerium war. ­Unter den Veröffentlichungen ist auch eine Geheimdienstmeldung, die zusammenfasst, was Angela Merkel am Telefon inhaltlich mit einem Mitarbeiter besprochen haben soll.

Einen Abend bevor der Humor­athlet und frühere Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) im Bundestag vor dem NSA-Untersuchungsausschuss aussagen musste, platzierte Wikileaks die Enthüllungen. Ein Coup.

Kurz zuvor hatte die Organisation ähnliches Gespür bewiesen: Am Abend bevor in Paris drastische Überwachungsgesetze verabschiedet wurden, legte Wiki­leaks auch hier Beweise vor. Inhalt: Wie die NSA drei verschiedene französische Präsidenten überwachte.

Und so dauerte es in den vergangenen Tagen nicht lange, bis sich der Eindruck verfestigte: Wiki­leaks ist zurück. Die Süddeutsche würdigte die Wiederbelebung der Organisation. Der journalistische Branchendienst Meedia meint gar, die „beinahe in Vergessenheit geratene Whis­tle­blower-Plattform“ sei auf dem Weg zur fünften Gewalt. Aber Moment mal: Kann eigentlich wiederauferstehen, wer nie wirklich tot war?

Wikileaks war nie untätig

Denn auch wenn die Aufmerksamkeit für das Treiben der Enthüllungsplattform in Deutschland zwischenzeitlich nachgelassen hat – untätig war sie nie. Im Gegenteil. Es ist erst einige Tage her, da veröffentlichte Wikileaks Dokumente über Saudi-­Arabien, die belegen sollen, dass der autoritäre Staat auch in Deutschland auf der Suche nach Journalisten war, die für stolze Monatsgehälter positiv über das saudische Königreich berichten sollten.

Eben­falls im Mai wurden geheime Protokolle aus dem NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag präsentiert. Zuvor hatten Assanges Leute im Mai 2014 über 200 ältere Teilnehmerlisten und Protokolle der seit jeher von Legenden begleiteten Bilderberg-Konferenzen offengelegt. Und so weiter.

Ergo: Es mangelte nicht an Enthüllungen, stattdessen allerdings an Interesse in Deutschland, wo sich die Wellen der Erregung häufig genug auf das Geschehen innerhalb der Landesgrenzen beschränken. Selbst als in dieser Woche die Inhaltsprotokolle der Telefonüberwachung im Kanzleramt bekannt wurden, reagierten viele reflexhaft mit der etwas gelangweilten wie ignoranten Frage: Was ist daran neu?

Abgeschmettert: Wiki­leaks-Gründer Julian Assange hat den französischen Präsidenten François Hollande in einem offenen Brief vom Freitag um Aufnahme in Frankreich gebeten. Der Élyséepalast wies das Ansinnen umgehend zurück: „Die Situation von Herrn Assange zeigt keine unmittelbare Gefährdung. Zudem liegt gegen ihn ein europäischer Haftbefehl vor“, hieß es. Der 44-jährige Australier sitzt seit drei Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Dorthin war er geflüchtet, um einer Befragung zu Vorwürfen sexueller Vergehen in Schweden und einer Auslieferung an die USA zu entgehen.

Ahnungslos: Die Bundesregie­rung könne derzeit die Authentizität der veröffentlichten Dokumente nicht bestätigen und prüfe diese noch, sagte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kon­troll­gremiums des Bundestages, André Hahn (Linke), am Freitag in Berlin. Nach dem jetzigen Kenntnisstand gebe es aber „keinerlei Involvierung des Bundesnachrichtendienstes“, sagte Hahn. Er äußerte sich, nachdem der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, das Gremium in einer Sondersitzung informiert hatte.

Geleakt: Wikileaks hatte am Mittwochabend Dokumente veröffentlicht, wonach 69 Tele­­fonanschlüsse von deutschen MinisterInnen und deren Mitarbeitern abgehört wurden. Unter den Spionagezielen waren wichtige Verhandler für interna­tionale Abkommen.

Dabei ist es aus deutscher Sicht nicht sehr weit bis ins Zentrum der Whistleblowing-Organisa­tion. Eine wesentliche Dependance von Wikileaks sitzt in Berlin. Dort halten sich neben der britischen Juristin Sarah Harrison, die zur Führungsspitze von Wikileaks und den engsten Vertrauten von Julian Assange und Edward Snowden, die im Exil leben, zählt, auch zahlreiche weitere enge Vertraute des hierarchisch organisierten Führungszirkels auf. Zu ihnen zählt etwa der Hacker, Unternehmer und einstige Sprecher des Chaos Computer Clubs, Andy Müller-Maguhn. Er sitzt im Vorstand der Wau-Holland-Stiftung. Die Organisation, benannt nach dem legendären Gründer des Chaos Computer Clubs, ist wichtiger Unterstützer und Geldgeber der Whistleblower-Organisation. Daneben zählt Müller-Maguhn mit Julian Assange und Sarah Harrison zu den Taufpaten der Courage Foundation, eines noch jüngeren Projekts mit dem Ziel, Whistleblower weltweit auch finanziell abzusichern.

Die Szene ist quicklebendig und bringt dauernd neue Organisa­tionen hervor. Auch das britische Centre for Investigative Journalism, bei dem Sarah Harrison einst arbeitete, hat inzwischen nach Berlin expandiert. Im kommenden Jahr soll ein pompöser Whistleblower-Kongress, der zuletzt in London stattfand, in Berlin zu Gast sein. Die Botschaft: Wir sind nie weg gewesen.

Für Wikileaks gilt das in besonderer Weise. Die Organisation hat in den vergangenen Jahren vor allem bewiesen, dass sie in der Lage ist, auch unabhängig von medialen Aufmerksamkeitswellen fortzubestehen. Dafür passt sie auch ihre Veröffentlichungsstrategie an.

Die Veröffentlichungen von Mittwoch sind, anders als manche vorherige, auf eine geringe Auswahl von Dokumenten beschränkt. Wikileaks selbst erzählt bereits die Geschichte: So muss nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch der Inhalt des sehr kurzen Geheimdienstberichts über ein Telefonat Angela Merkels aus dem Oktober 2011 wohlkalkuliert gewesen sein. Darin geht es um die Griechenlandkrise, die Eurozone und Merkels Disput mit ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Damit lieferte die investigative Kommandozentrale rund um Julian Assange gleich vier Erzählstränge, wie sie Geschichtenerzähler – und nichts anderes sind Journalisten ja – schließlich brauchen: erstens neue Details zum Ausmaß der NSA-Spionage, zweitens eine Erinnerungsvorlage zu den politischen Peinlichkeiten eines Ronald Pofalla, drittens neuen Stoff zur aktuellen Griechenlandkrise – und wer dann noch nicht genug hatte, durfte die Wiedergeburt von Wikileaks mitentdecken. Das sind gleich vier erzählbare Geschichten und ist mindestens eine zu viel für einen Toten.