Westerwelle wettert weiter: "Die Deppen der Nation"
Außenminister Westerwelle wettert weiter gegen Hartz-IV und fordert einen neuen Sozialstaat. FDP-Vize Pinkwart fordert, Westerwelle müsse Macht teilen - SPD-Chef Steinmeier nennt Westerwelle "zynisch".
BERLIN dpa | FDP-Chef Guido Westerwelle hat einen völligen Neuanfang für den deutschen Sozialstaat gefordert. "Der Sozialstaat muss treffsicherer werden", verlangte Westerwelle am Sonntag in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. "Wir müssen vor allen Dingen denen mehr helfen, die sich selbst nicht helfen können, insbesondere den Kindern." Die Sozialpolitik müsse umfassender diskutiert werden als nur die Frage von Regelsätzen für Hartz-IV-Empfänger. "Für mich ist die beste Sozialpolitik immer noch die Bildungspolitik, und da haben wir in Deutschland mittlerweile geradezu dekadenten Erscheinungen", sagte der Vizekanzler.
Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze für Kinder angemahnt hat, meinte Westerwelle: "Ich habe eine sehr positive Haltung dazu, dass vor allen Dingen die Rolle der Kinder in unserer Gesellschaft gestärkt wird." Er habe lediglich die nachfolgende Debatte über die Finanzierbarkeit von Steuererleichterungen kritisiert. Es sei "geradezu eine zynische Debatte, wenn diejenigen, die in Deutschland arbeiten, die aufstehen, die fleißig sind, sich mittlerweile dafür entschuldigen müssen, dass sie von ihrer Arbeit auch etwas behalten möchten." Die Arbeitnehmer würden mehr und mehr "zu den Deppen der Nation".
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat Außenminister Westerwelle wegen dessen Attacken auf Hartz- IV-Empfänger derweil "unglaublichen Zynismus" vorgeworfen. Es habe nichts mit Müßiggang und Bequemlichkeit zu tun, wenn Menschen nach Jahren der grenzenlosen Gier in der Finanzwirtschaft ihre Arbeit verlören und Unterstützung bräuchten, sagte Steinmeier. "Wenn der FDP-Vorsitzende nach Anzeichen von Dekadenz sucht, hätte er sie bei denen finden können, die dieses Desaster durch ihr verantwortungsloses Treiben angerichtet haben", meinte Steinmeier. Es richte sich auch selbst, wenn Westerwelle "die halbe Republik des geistigen Sozialismus bezichtigt".
Angesichts sinkender Umfragewerte bahnt sich in der FDP eine Diskussion über die Führungsstruktur an. Parteivize Andreas Pinkwart forderte den Vorsitzenden Guido Westerwelle auf, die Verantwortung für die Partei zu teilen. Pinkwart, der FDP-Chef in Nordrhein-Westfalen und Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 9. Mai ist, sagte dem Hamburger Abendblatt vom Samstag: "Die Parteiführung ist stärker im Team gefordert. Die FDP muss mehr Gesichter in den Vordergrund stellen." Er denke vor allem an die neuen Mitglieder der Bundesregierung, den neuen Generalsekretär und auch an einige Landespolitiker. "Dazu gehört, dass die Partei es aushält, wenn sich Persönlichkeiten aus der engeren Führung profilieren. Das darf nicht gleich als Angriff auf den Parteivorsitzenden gesehen werden", sagte Pinkwart.
Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Ahrendt, wies die Forderung nach einer breiteren personellen Aufstellung der Parteiführung am Samstag umgehend zurück.
"Ausgesprochen jämmerlich" nannte Steinmeier den Zustand des Regierungsbündnisses. Kein Tag vergehe ohne neuen Streit, keine Woche ohne Krisengipfel. "Die schwarz-gelbe Ehe wird nur noch von der Angst vor den Scheidungskosten zusammengehalten", sagte er. Obwohl die Wirtschaftskrise noch nicht überstanden sei, vernachlässige die Koalition sträflich ihre Aufgabe, das Land zu regieren. "Statt sich um Arbeitsplätze, Bildung, Regulierung des Finanzmarktes und die Begrenzung der Staatsschulden zu kümmern, leistet sich diese Regierung öffentliche Pöbeleien und Streitereien in ungekanntem Ausmaß."
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