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■ West- und Ostdeutsche verstehen sich nur eingeschränkt. Doch gerade Ostler genießen diesen Zustand zusehendsEin Lob der Unterscheidungslust

Für diesen Abend bestellte ich Frau Dr. Goyschke, Literaturwissenschaftlerin aus Greifswald, in ein Charlottenburger Lokal: Seit wir uns kennen, seit 1992, pflegen wir einander abwechselnd auf westlichem und auf östlichem Gelände zu begegnen, wobei ich, der Westbürger, im Osten mich bereits viel neugieriger umgeschaut hatte als sie, die Ostbürgerin, im Westen. Eine erste Unterscheidung, die auszuarbeiten uns viel Freude machte. „Wir kennen euch doch“, sagt sie, „wir haben doch Westfernsehen geschaut.“ Gelächter.

Bei meinem letzten Besuch auf ihrem Terrain zeigte sie mir eine französische Weinstube in Berlin- Hohenschönhausen – was bereits nach Surrealismus klingt –, „Der Normanne“ mit Namen. Das barackenhafte Gebäude der früheren Heizanlage ist mit Tischchen, Stühlchen, Bilderchen und allerlei Schnickschnack vollgestopft.

Als ich Frau Dr. Goyschke – wir verzehrten zu dem ordentlichen Wein eine üppige Platte mittelguten Käses – vom Horror vacui Vortrag zu halten begann, der die proletarische, schon die bäuerliche Ästhetik bestimme und bei uns in Kreuzberg zum Beispiel als durchornamentierte Tapete türkischer ebenso wie kleinbürgerlicher deutscher Wohnungen zu beobachten sei – da bemerkte ich zu spät, daß dies keine Unterscheidung war, an der mitzuarbeiten sie Freude hatte.

Die Literaturwissenschaftlerin aus Greifswald ist für die archaisch-vormodernen Merkmale der ehemaligen DDR entweder blind, oder sie schämt sich ihrer (so verstehe ich ihre Verständnislosigkeit in dieser Hinsicht). Sie verortet sich selbst (wenn ich recht verstehe) in dem Bildungsbürgertum, das in der DDR entstand.

Einen unserer ersten Abende – in einem anderen extremistisch „gemütlichen“ Restaurant von Berlin-Mitte – verbrachten wir mit der Ausarbeitung dieser Unterschiede, wie die offizielle Hochschätzung von Bildung, Geist, Kultur in der DDR ein stabiles Bildungsbürgertum produzierte, das den Untergang der DDR und die eigenen Wirtschaftsschwierigkeiten selbstgewiß überdauert, während im Westen dessen avancierte Kader eben die Kritik des Kulturfetischismus erlernten. In der französischen Weinstube „Der Normanne“ manifestiert sich das einheimische Bildungsbürgertum in der Gestalt des literarischen Clubs, dessen Mitglieder an einem Abend jeden Monats auf den Stühlchen, um die Tischchen, bei den durchschnittlichen Käsehäppchen und anderen Köstlichkeiten sich versammeln, um angeregt literarische Neuerscheinungen zu diskutieren (sofern sie aus dem Osten stammen). So etwas gibt es im Westen schon lange nicht mehr, erwiderte ich, daß Bewohner solcher Siedlungen einen literarischen Club bilden. Frau Dr. Goyschke nickte selbstgewiß, vorwurfsvoll.

Nun aber der Abend in Charlottenburg. Frau Dr. Goyschke stieg am Savignyplatz aus der S-Bahn und erfreute sich an dem mediterranisierten öffentlichen Leben, Lokale, Leute, Treiben. (Daß dies eine Mediterranisierung des Nordens bedeutet, bleibt für sie unsichtbar, weil sie noch nie im Süden war und ihr die verbreitete Sehnsucht danach fehlt.)

„Das ist das alte Westberlin- Mitte“, sage ich, „der Ku'damm.“ Frau Dr. Goyschke lacht, beginnt aber gleich über die Autobahnhinweisschilder zu grübeln, was sie denn mit der Entfernung zu „Berlin-Zentrum“ mitteilen, Mitte oder Ku'damm? Klar, damit wollte Frau Dr. Goyschke festgelegt wissen, ob das Zentrum der neuen Hauptstadt mit dem Zentrum der „Hauptstadt der DDR“ zusammenfalle. Was bleibt der neuen Bundesrepublik anderes übrig, als ihr Zentrum im alten Ostberlin zu finden?, deutete Frau Dr. Goyschke mit sozusagen geschichtsphilosophischer Koketterie an.

Es kennzeichnet diese Unterscheidungslust, die sich Ost und West verschaffen, wenn sie dergestalt kommunizieren, daß ihr Gegenstand unvorhersagbar ist.

An diesem Sommerabend ausgerechnet Günter Grass. Frau Dr. Goyschke erzählte, sie habe frisch „Ein weites Feld“ gelesen und verstehe beim besten Willen nicht, warum die (West-)Kritiker das Buch verrissen. Nach ihrem Urteil eine treffende Satire auf gewisse deutsche Physiognomien – nein, sie verstehe die Kritik nicht, sie habe sich glänzend amüsiert.

Je ausführlicher und (wie ich meinte) genauer ich literaturkritisch begründete, wie mißlungen das Buch ist, desto ruhiger zeigte Frau Dr. Goyschke sich in ihrer Gegendarstellung. Diesmal war Unterscheidungslust ganz auf ihrer Seite; denn ich näherte mich, weil erfolglos bei meinen Überzeugungskünsten, allmählich der Grenze zur Wut, und da soll man, wenn Ost und West dergestalt über ihre Unterschiede kommunizieren, vorsichtig sein.

Ich fasse zusammen. Wenn Ost und West in dieser Weise kommunizieren, stellen sie im Lauf der Zeit immer deutlicher ihre Unterschiede heraus. Denn die DDR als tief unbefriedigender Lebenszusammenhang verschwindet zunehmend in der Vergangenheit. Übrig bleiben Erinnerungen, Erfahrungen und Überzeugungen, die gegenüber dem Westen abgrenzen.

Man kann diese unterscheidungslustige Abgrenzung als Mißverstehen (von Ost durch West und vice versa) beklagen, unterliegt damit aber einem Vorverständnis von Kommunikation als Herstellung von Einverständnis. Warum nicht die Unterschiede ausarbeiten? Das macht auch Ostbürgern offenbar viel mehr Spaß. Man kann den Eindruck gewinnen, sie kommen erst jetzt überhaupt auf diesen Geschmack. Daß man Differenzen zugunsten der Einheit zurückstellen soll, war ja ein sozialistischer Zentralmythos.

Ich vertrete mit Vorliebe die These, daß erst jetzt die DDR entsteht, unter den Bedingungen freien Austauschs – nicht als Staat, sondern als Kultur, als eigene Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft. Der Westler, der das Ziel des Einverständnisses aufgibt, kann dabei gut mittun, wie meine gelungenen Abende mit Frau Dr. Goyschke lehren. Das Problem für Hamburg oder Köln oder München scheint mir weniger Mißverstehen als Kommunikationsverzicht. Michael Rutschky

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