Wer ist eigentlich „Ludwig“?

■ Zwei Männer, die als „Gruppe Ludwig“ mehrere Morde und Anschläge verübten, wurden zu langen Haftstrafen verurteilt / Die Verhandlung ergab mehr Unklarheiten als zuvor / Aus Verona Werner Raith

„Ziel unseres Lebens ist der Tod derjenigen, die den Wahren Gott verraten.“ So stand es in einem der Bekennerbriefe des Italieners Marco Furlan und des Deutschen Wolfgang Abel, die am Dienstag in Verona wegen zehnfachen Mordes, begangen zwischen 1978 und 1984, zu jeweils 30 Jahren Gefängnis und drei Jahren Einweisung in eine psychiatrische Anstalt verurteilt wurden. Die Ideologie der beiden blieb weitgehend unklar. Ob sie geistesgestörte Einzeltäter, Mitglieder einer fanatisch–religiösen Sekte odr ins neofaschistische Umfeld einzuordnen sind, konnte während der Verhandlung nur gemutmaßt werden. Ein Zusammenhang mit Italiens „Schwarzem Terror“ ist möglicherweise nicht auszuschließen. Die Frage nach eventuellen Komplizen oder Hintermännern bleibt jedoch - wie häufig in der jüngsten Geschichte Italiens - offen.

„Dreißig Jahre?“ Marcello Oberdan, der mit dem „Shuttle“ täglich Gäste zwischen dem Flughafen und der Piazza Bra hin– und herkarrt, kann wenig damit anfangen: „Waren sies nun oder waren sies nicht?“ Gerolamo vom Restaurant „Cervo“ hält die dreißig Jahre für „eine Art Freispruch“, sein Kollege von der Bar „Arena“ aber für „weit überzogen“. Die Richter im Prozeß um die „Gruppe Ludwig“ hatten nach einem weisen Spruch gesucht und haben damit wohl noch größere Verwirrung angerichtet als vordem bestand: In der Hälfte der Fälle von Mord und Massaker wurden die beiden Angeklagten Marco Furlan, 26, und Wolfgang Abel, 27, wegen Mangels an Beweisen freigesprochen, in der anderen Hälfte aber verurteilt - darunter für den Anschlag auf das „Liverpool“ in München 1984. Zudem müssen die beiden für drei Jahre in die Psychiatrie - zu welchem Zweck, ist ebenfalls unklar: Sollen sie in der Zeit kuriert werden? Oder sieht Italien, wo die Irrenhäuser abgeschafft sind, das als Zusatzstrafe an? Oder will das Gericht überhaupt erst einmal herausfinden, wie unzurechnungsfähig die beiden sind? „Das Entsetzen“, erklärt mir einer der Gerichtssaalwachen, „ist sowieso schon längst vorbei. Der Spruch wird die Entspannung weiter fördern: Jeder kann ihn deuten, wie er will.“ Es war überhaupt ein merkwürdiges „Entsetzen“, das die Veroneser da seit März 1984 gepackt hatte, als Abel und Furlan unter dem Verdacht verhaftet wurden, „Ludwig“ zu sein: Vorangegangen waren an die fünfzehn Morde an Homosexuellen, Priestern, Zi geunern, Prostituierten, Anschläge auf Sexkinos und Nachtlokale, fast alle mit „Bekennerbriefen“ in Runenschrift und mit Hakenkreuzen samt Unterschrift „Ludwig“ gekennzeichnet. Doch die Aufregung in Verona rankte sich weniger um die Morde als vielmehr um die Tatsache, daß die beiden Verhafteten „aus bestem Hause“ stammten: Furlans Vater ist Chefarzt in einer Klinik, Abels Vater, 1966 aus München zugewandert, leitet eine große Versicherungsgesellschaft; beide studierten mit Auszeichnung Physik bzw. Mathematik, beide fielen in der Umgebung, wie eine Nachbarin Furlans meinte, „vor allem durch gute Manieren, Hilfsbereitschaft, Ruhe“ auf. Deshalb „würde es mich auch sehr wundern, wenn die etwas mit Morden zu tun hätten“. Der Konjunktiv ist in Sachen „Ludwig“ eine Art Markenzeichen. „Vielleicht hätten sies gewesen sein können“, überlegt Marcello vom „Shuttle“, und Gerolamo findet, daß „ich es wohl lieber nicht glauben würde“. Doch „wenn sies waren, können sie nur verrückt sein“. Der Meinung war wohl auch das Gericht - und suchte durch die Klippen hindurchzukommen, die durch schwache Ermittlungen, das Schweigen der Angeklagten, die zunächst aufgetretene Lynchstimmung und die spätere Verdrängung in Form warmer Zuwendung zu den Eltern aufgebaut wurden. Schwache Indizienketten hatte sogar der Staatsanwalt erkannt und in zwei Punkten der Anklage Freispruch gefordert. Da die beiden Angeklagten dem Gericht nur einen einzigen geplanten Brandanschlag - bei dessen Vorbereitung sie gefaßt wurden - zugaben und ansonsten dem Gericht nur selten die Ehre ihrer Anwesenheit gewährten, hatte die Verteidigung weiten Spielraum. Konsequent grummelte sie immer wieden von einer angeblich für „Ludwig“ verantwortlichen „dritten Person“, zerpflückte die staatsanwaltliche Indizienkette und zog, wenn alles nicht half, gar die Möglichkeit eines „fairen Prozesses“ in Zweifel: Noch immer müssen einige Drohungen sofort nach der Festnahme 1984 herhalten, um das „bösartige Klima“ zu belegen - ein Klima, das längst umgeschlagen ist in geradezu überschäumende Hektik, Verona wieder aus den Schlagzeilen zu bekommen. Denn diese Stadt blüht vor allem im Verborgenen: Die Auslagen ihrer Geschäfte sind, nach Palermo und Mailand, die reichsten im Lande, das Pro–Kopf–Einkommen steht mit an der Spitze des Landes, Skandale wie Bestechungsverdachte in der Stadtverwaltung, Bauspekulation mit administrativer Hilfe und unsaubere öffentliche Aufträge werden von der christdemokratisch–sozialistischen Rathauskoalition mit schöner Regelmäßigkeit unter den Tisch gemauschelt. „Wir leben vom Fremdenverkehr“, erklärt der Tourismus–Dezernent, „da wollen die Besucher, besonders die deutschen, etwas von der Aida–Aufführung in unserer wunderbaren Arena hören und nichts von Affären.“ So kippt die Stadt bereits aus den Pantoffeln, wenn ruchbar wird, daß ein mutiger Amtsrichter nach dem x–ten schweren Anschlag heimischer Fußballfans auf Gäste zwölf Anführer dieser „Ultras“ festnimmt: „Das muß die Presse ja nicht breittreten“, entsetzt sich der Tourismus–Mann. Genauso wie der „Ludwig“– Skandal monatelang unter den Teppich gekehrt, Ausländern zugeschrieben wurde - zumindest einem verirrten Römer oder einem Palermitaner - einer aus Verona durfte es auf keinen Fall sein. Im Fall der messerstechenden Ultras gibt es verständnisvolle Kommentare zu einem hakenkreuzverzierten Aufruf der Fan– Clubs zum Boykott der nächsten Fußballspiele, falls die Bosse nicht sofort freigelassen werden - eine offene Herausforderung der Justiz. Sprühspruch einer „Ultra“– Gruppe nahe dem Stadion: „Wir sind die Herren Italiens, die Herren der Welt. Wir sind Rassisten und wir sind stolz darauf.“ „Ludwig“ schrieb in einem seiner „Bekennerbriefe“ mit dem Emblem eines Adlers, der in den Klauen ein Hakenkreuz hält: „Unser Glaube ist der Nazismus, unsere Justiz der Tod, unsere Demokratie die Ausrottung.“ Doch das Klima, in dem „Lud wig“ gedeihen konnte, zeigt sich nicht nur bei den Ultras oder den bubenhaft wirkenden Abels und Furlans: Es durchdringt alle Schichten, meist erst beim zweiten Hinsehen zu entdecken. So bewegt sich die „Ludwig“–Diskussion - sofern sie überhaupt stattfindet - allenfalls um die Frage, „was den beiden Jungen denn gefehlt hat, daß sie so etwas tun“ - „so etwas“: was? „Naja, das mit den Homos, den Nutten, den Pfaffen“, erklärt Gerolamo: Die Sprache zeigt, daß er es so abwegig auch wieder nicht findet, wenn es einer auf sie abgesehen hat. In einer Alimentaria nahe der Abelschen Wohnung „halten wir denen alle Daumen, daß sies nicht waren“, denn „so einfach umbringen darf man auch solche Leute nicht“. „So einfach“ - „auch solche Leute“. Irgendwie steht immer im Raum, daß es halt doch „nur“ Randgruppenangehörige waren: mildernde Umstände auf jeden Fall. Und außerdem: „Die arme Mutter - die hat es nicht verdient.“ Was? „Daß sie ihren Jungen so lange ins Gefängnis stecken.“ Die Opfer haben es wohl schon verdient, daß sie umgebracht wurden.