: Wer ist anders, ihr oder ich?
Daß behinderte Kinder Bücher lesen wollen mit Helden, die so sind wie sie, hat der Kinderliteraturmarkt bisher ignoriert. Doch nun ist es passiert: Eddie ist da. Er ist der erste mongoloide Bilderbuchheld und strahlt uns an mit Mandelaugen ■ Von Gabi Trinkaus
Seine Geschichte hat eine amerikanische Kindergärtnerin geschrieben. Es ist Ferienanfang, Christina sitzt auf der Terrasse. Auf der anderen Straßenseite hockt der mongoloide Eddie und verkleckert sein Eis. Christina weiß, daß er einsam ist und ihr deshalb den ganzen Sommer nachlaufen wird. Sie verschwindet unauffällig zum anderen Nachbarsjungen Robert. Gemeinsam wollen sie zum Waldsee. Robert will ihr dort Froschlaich zeigen. Doch Eddie heftet sich auf ihre Fersen. Robert wird grob. „Ab nach Hause, Eddie.“ Doch Eddie grinst: „Ich bin kein Hund, Robert.“ Der Froschlaich ist nicht zu finden. Christina nerven Roberts Angeberei und Grobheit. Da nimmt Eddie sie bei der Hand und zeigt ihr einen wunderschönen Platz. Hier gibt es Froschlaich und noch vieles mehr. Eddie ist der Held des Tages und grinst glücklich und breit.
Das steckt an. So viel Glück strahlt aus diesem Bild. Dabei wird nichts geschönt. Da ist Eddies großer Kopf auf kurzem Hals und schmalen, abfallenden Schultern, die kleinen Ohren, die Mandelaugen, die breite Hand, die täppische Behäbigkeit. Doch Hand aufs Herz, „Was hier drin ist, zählt“, sagt Eddie.
Virginia Fleming/Floyd Cooper: „Sei nett zu Eddie“. Ab 7, Lappan, 24,80 DM
Die Prinzessin im Rollstuhl
Martina Dierks ist in ihrer ehrlichen, direkten Schreibe immer am Puls der Zeit. Deshalb kann Kitty auf die spastisch gelähmte Laura auch unverhohlen wütend sein. Mit so einer muß sie die Ferien in Heringsdorf verbringen. Wäre sie doch mit Papa nach Italien gefahren. Den ganzen Tag heißt es: „Laura, Süße, möchtest du dies oder das?“ Lauras Mutter scheut keine Anstrengung, um die kranke Tochter glücklich zu machen.
Kitty wütet, und keiner versteht sie, weder Mama noch Oma und der kleine Bruder sowieso nicht. Laura kann froh sein, daß sie keinen hat. Alles passiert, wie Laura es will. Kitty muß noch manches aushalten, aber in einem hat sie recht: Laura muß ja nicht sterben. Sie ist nur behindert, und wenn der Rollstuhl es nicht tut, soll sie doch krabbeln. Und das macht Laura auch, als es drauf ankommt, und wird so zur Lebensretterin und Heldin von Heringsdorf.
Martina Dierks: „Die Rollstuhlprinzessin“. Ab 10, Altberliner,
22 DM
Ekel, Haß und auch noch Liebe
„Eine Freundin wie Zilla“ ist der Titel einer preisgekrönten Feriengeschichte aus Kanada. Nobby, zehn Jahre alt, wünscht sich für ihre Ferien am Meer eine Freundin. Jemand, der richtig spielen kann und nicht an Jungens denkt. Zilla scheint ihr da kaum geeignet. Sie ist siebzehn und sieht nicht mehr aus wie ein Kind.
Zilla entpuppt sich als Kind, zu dem der Körper nicht paßt. Sie haben eine wunderbare Zeit miteinander, bis Onkel Chad eintrifft. Er hat Angst vor Bakterien, ist zwanghaft perfektionistisch und kann es nicht lassen, Zilla zu beobachten und zu kritisieren. Zilla hält das nicht aus. Nobby verliert ihre Freundin. Alle hassen Chad, der sich erst mal durch einen ausgedehnten Klippenlauf unsichtbar macht. Und er bleibt es. Wäre da nicht Zilla, die versteht, was die Möwen kreischen, gäbe es kein Ekel Chad mehr.
Rachna Gilmore: „Eine Freundin wie Zilla“. Ab 10, Klopp,
19,80 DM
Manche haben Fäuste, Kevin hat ein Wörterbuch
Eigentlich ist es ganz einfach. Ein Großer mit wenig Hirn nimmt einen Zwerg mit Riesenhirn auf seine Schultern. Jetzt hat jeder, was ihm fehlt. Sie ziehen durch die Welt wie weiland die Ritter, bestehen phantastische, aber auch sehr reale Abenteuer. Glück und Witz sind stets auf ihrer Seite. Da müssen auch die Rechten ihre Lektion lernen. Und Killer Kane, Maxwells Vater, muß vor einem Zwerg die Arme heben. Natürlich ist Kevin auch für die Lehrer eine echte Herausforderung. Er schützt Maxwell vor diesen Ahnungslosen, damit er endlich mal sein Hirn bewegt. Er triezt ihn unaufhörlich mit seinem Wörterbuch. Jedes unbekannte Wort muß Max nachschlagen. Das kann nicht ohne Wirkung bleiben. Doch das merkt Max erst, als Kevins großes Herz den kleinen Körper sprengt. Kevins letzter Befehl lautet: „Schreib es auf, die ganzen coolen Sachen.“
Max muß wollen, die Buchstaben gehorchen, und dieses gelungene Buch ist das Ergebnis.
Rodman Philbrick: „Freak“. Ab 12, Ravensburger, 24,80 DM
Gut gemeint, aber hausbacken
Ein deutscher Versuch zum Thema Down-Syndrom ist das schmale Büchlein „Johanna ist anders“. Im Grunde handelt es sich um eine Semesterarbeit einer Pädagogikstudentin, ist also sehr didaktisch, aber gutgemeint. Im Anhang gab es Fotos des mongoloiden Mädchens. Sie sind leider ausgetauscht worden zugunsten bunter Zeichnungen. Verschwunden ist auch die Autorin. Ihr Professor hat dieses Buch überarbeitet.
Die kleine Geschichte wird aus der Perspektive des zehnjährigen Bernd erzählt. Er ist gerade umgezogen und trifft Johanna im Hausflur. Er findet sie seltsam ausländisch aussehend und wird gleich von ihrem Bruder angemacht. Er beschließt, daß dieser Junge blöd ist. Doch seine Mutter erklärt ihm, warum dieser so reagiert, seine kleine Schwester ist behindert, und er beschützt sie. Ein neuer Anfang wird gewagt, und Bernd lernt Johanna und ihren Bruder kennen und schätzen. Doch seine Freundschaft zu seinem besten Freund zerbricht fast daran.
Hans Gärtner: „Johanna ist anders“. Ab 7, Echter, 19,80 DM
Wer schüttelt gern geliehene Hände?
Jürgen hat keine Arme. In verzweifelten Stunden gibt er seiner Mutter die Schuld. Doch eigentlich geht es ihm gut. Er geht in die gleiche Schule wie seine Freunde. Er kann besser mit dem Fuß schreiben und malen als mancher mit den Händen. Seine Freunde stellen ihm ganz selbstverständlich ihre Hände zur Verfügung, wenn er sie braucht. Trotzdem macht er manchmal gefährliche Mutproben, als müsse er es allen zeigen. Dabei kann er alles schaffen, was er will, sogar den Sprung vom Dreimeterbrett.
Doralies Hüttner: „Los, Jürgen spring!“ Ab 8, Rotfuchs, 7,80 DM
Mein Bruder ist ein Orkan
Hannahs jüngerer Bruder Andreas ist autistisch. Er lebt in einer Welt der Rituale. Veränderungen überfordern ihn, provozieren Schreianfälle. Zu seinen Eltern hat er eine große Distanz. Nur Hannah ist ihm nah. Seit einem Jahr schallt Summertime durchs Haus. Das Wohnzimmer schmückt er mit langen Reihen aller möglichen Gegenständen. Über die keiner stolpern darf. Und wenn sie wirklich einmal Besuch bekommen, dann schüttet ihn Andreas mit Postleitzahlen zu. Hannah liebt ihren Bruder, auch wenn sich alles um ihn dreht, die Eltern häufig müde sind und sich streiten. Der Lieblingssatz der Mutter lautet: „Wir werden alle noch verrückt.“ Und Hannah ergänzt: „Dann passen wir ja zusammen.“ Und das meint sie wirklich so. Wenn auch das ganze Leben durch Andreas' Krankheit bestimmt wird, haben sie doch auch viel Spaß miteinander, wenn sie toben und sich kitzeln und „olleke, bolleke“ singen. Hannah ist geschockt, als sie merkt, daß ihre Eltern Andreas in ein Heim bringen wollen. Da weiß Hannah, sie muß ein Zeichen setzen, sie muß für Andreas kämpfen.
Kolet Janssen: „Mein Bruder ist ein Vulkan“. Ab 10, Anrich,
24,80 DM
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