: Wenn nur noch Steine reden
■ 1873 lebten 74 Juden in Ottersberg, und 1910 waren alle weg: Ein neues Buch fragt, warum
Es bleibt bis heute ein ungeklärtes Phänomen. Von Anfang des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts gab es im Flecken Ottersberg eine erstaunlich große jüdische Gemeinde. In ihrem besten Jahr zählte sie 74 Mitglieder; das war 1873. Niemand weiß, warum es so viele jüdische Familien gerade nach Ottersberg zog – und warum sie den Ort bis 1910 ausnahmslos wieder verlassen hatten. Zu dem einzigen Überbleibsel, dem jüdischen Friedhof, gelangt man heute nur noch übers Feld oder durchs Unterholz. Dort hatte die Autorin Hannelore Kluge die Idee, den Ottersberger Juden ein Buch zu widmen.
Lea Rosh schrieb im Geleitwort zu Ihrem Buch: Erst wenn wir nicht mehr von den Toten reden, sind sie wirklich tot. War das auch Ihr Hintergedanke?
Die Juden der jüdischen Gemeinde in Ottersberg haben etwa hundert Jahre lang das Leben der Ottersberger mitgeprägt, haben mit ihnen gelebt. Und davon ist nichts übriggeblieben außer ein paar Grabsteinen. Ich wollte einfach darüber hinaus etwas an Erinnerungen auffrischen und erhalten.
Welche Quellen haben Sie da aufgetan?
Im Kreisarchiv in Verden fand ich drei große Stapel an Material, fast einen Meter hoch. Die ganzen Abrechnungsbücher der jüdischen Gemeinde zum Beispiel, wo jeder Radiergummi, jede Kerze aufgelistet ist. Und die ganzen Familienunterlagen. Dann habe ich mit Zeitzeugen sprechen können. Und ich hatte Kontakt zu dem BBC-Journalisten James Hogg. Er schreibt gerade eine Biographie über den Politiker und Mäzen Dannie Heineman, der ja auch in Ottersberg aufgewachsen ist.
Die Zeitzeugen kannten die Mitglieder der jüdischen Gemeinde noch persönlich?
Das waren vor allem ältere Leute, die mich angesprochen haben, als ich vor zwei Jahren einmal bei einer literarischen Wanderung einen Text über den Ottersberger jüdischen Friedhof gelesen habe. Das waren Bauern, zum Teil auch Beamte. Gerade die Bauern hatte ja viel mit den jüdischen Viehhändlern zu tun. Bei unserem Nachbarn zum Beispiel stand die Judenbahre, die Totenbahre. Und da hat er als junger Mann sehr oft das jüdische Beerdigungsritual miterlebt.
Manche scheuen ja solche persönlichen Gespräche, weil sie die Empfindlichkeiten der Leute scheuen.
Da ist mir überhaupt nichts an Berührungsängsten begegnet, die Leute haben locker drauflos erzählt. Die sind aber auch in ihren Erinnerungen nicht belastet. Wären die Juden noch in den dreißiger Jahren in Ottersberg gewesen und den Verfolgungen der Nazis ausgesetzt gewesen, hätte das wahrscheinlich anders ausgesehen.
Ihr Buch ist daneben auch eine Art privater Spurensuche.
Was es an historischen Fakten gab, habe ich so vollständig wie möglich recherchiert. Ich wollte aber kein Geschichtsbuch schreiben, sondern ein Geschichtenbuch. Sehr oft war ich selbst auf dem Friedhof, hab den Ort aufgesucht, wo die Synagoge einst gestanden hat.
Sie waren auch selbst mal bei einem Gottesdienst in der Synagoge gewesen.
Ja, ich war zu Gast in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Bremen. Das war für mich ein besonderes Erlebnis, und ich kann ein solches Buch ja ohne diese Erfahrung gar nicht schreiben.
Da, wo dann die spärlichen geschichtlichen Quellen versiegen, gehen Sie in Ihrem Buch zu Vermutungen, zum Fabulieren über.
Ich sag ja auch an einer Stelle, die Geschichten muß ich mir selber erfinden. Ich denke mir einfach, so kann's gewesen sein. Manche Zitate, zum Beispiel die über die beiden Töchter Moses', die überaus beliebte Tänzerinnen im Flecken waren, die sind wirklich authentisch. Wenn ich aber dann zum Schluß überlege, was aus der Familie geworden ist, dann ist das Fiktion.
Ihr Buch ist sehr schlicht in seiner Aufmachung.
Das wollte ich so, ich hab ja auch die Geschichten sehr kurz und schlicht erzählt. Vielleicht können ländliche Geschichten nur so erzählt werden.
Kurz heißt aber nun auch, daß Sie sich an jüdische Kultur, an jüdische Lebenswelten, die sie ja erklären wollen, immer nur gerade mal herantasten können.
Genauso war es auch. Ich selbst hab mich ja auch an ein für mich neues Gebiet herangetastet, über das ich vorher überhaupt nichts wußte. Alles, was in meinem Buch steht, das gebe ich ganz frisch weiter.
Ist Ihr Buch nun ein Ottersberger Spezifikum?
Inzwischen, nach all der Lektüre, weiß ich, daß dieses Buch schon exemplarisch für jüdisches Landleben überhaupt ist. In allen Dörfern Deutschlands haben die Juden so gelebt wie in Ottersberg.
Fragen: Silvia Plahl
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