Wenn man Gehen nicht mehr genießen kann: Aus dem Takt
Wenn Menschen gehen, hinterlassen sie Lücken. Unsere Autorin hadert damit. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ihr Gehen keinen Spaß mehr macht.
A ch, ich kann nicht mehr gehen. Meine Beine schmerzen beim Gehen von den Hüften abwärts, meine Füße verkrümmen und versteifen sich, meine Arme wollen nicht mehr lässig und selbstverständlich im Takt schwingen, es gibt eigentlich keinen Takt mehr. Natürlich kann ich noch einen Fuß vor den anderen setzen, komme dabei von der Stelle, aber es ist eine Qual. Ich kann das Gehen nicht mehr genießen, Katastrophe! Und ich habe so eine Ahnung, woran das liegen könnte: Es ist zu viel gegangen worden im vergangenen Jahr.
Im Juni vergangenen Jahres ging meine Mutter, sie starb in einer Senioreneinrichtung in Berlin, gut versorgt und ausgezeichnet gepflegt. In ihren letzten Tagen versank sie immer wieder in einen Halbschlaf voller Erinnerungen, und wenn sie daraus wieder auftauchte, berichtete sie mir lebhaft zum Beispiel davon, wen sie eben alles auf der Kirmes getroffen hatte und was diese Leute ihr erzählt hatten.
Den Namen nach handelte es sich um Freunde und Freundinnen aus ihrer Jugend, und auch meine Mutter war in diesen Träumen wohl wieder jung, denn sie beendete ihren Bericht resolut mit den Worten: „Jetzt gib mir mal eine Zigarette!“ Da rauchte sie schon Jahrzehnte nicht mehr, und ich frage mich bis heute, warum ich ihr keine gegeben habe. Ich dachte, man dürfe in dieser Senior*innenwohnanlage nicht rauchen, aber die ausgezeichneten Pflegerinnen sagten mir später: „Ach! Hätten Sie doch machen können!“ Zu spät.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Kurz nach der Bestattung meiner Mutter ging meine Tochter auf einen anderen Kontinent. Sie wollte schon lange weggehen aus Berlin, aus Deutschland; in dieses andere Land hatte sie sich verliebt. Ich konnte das vor Kurzem nachlesen in einem Bericht über ihre Auswanderung, den sie für eine Zeitschrift geschrieben hat: Ihre Freude über diesen neuen Ort, seine Schönheit, die Ruhe und die Freundlichkeit der Menschen dort; ihre Begeisterung über diese Veränderung, das neue Leben, einen Neuanfang. In diesem Text kam ich, ihre Mutter, nicht vor.
Mutter ist okay, die kommt klar
Natürlich nicht: Es interessiert die Kinder nicht, wie sich ihre Eltern dabei fühlen, wenn sie weggehen – mich hat es auch nicht interessiert, als ich einst weggegangen bin. Ich habe mich einfach entschlossen, das als gutes Zeichen zu werten: Mutter ist okay, die kommt klar. Ich habe bei dieser Entscheidung zu gehen, keine Rolle gespielt, ich war kein Hindernis, und das ist doch eigentlich ganz gut in so einem Mutter-Tochter-Ding.
Jetzt geht auch ein Mann aus meinem Leben. Er weiß, glaube ich, nicht, dass ich es schon weiß, vielleicht weiß er es selber noch gar nicht. Aber ich spüre, dass er abwesend ist, wenn ich ihm etwas erzähle, dass er vergisst, was ich ihm bereits erzählt habe, dass er nur noch von seinen Plänen spricht und an meinen kein großes Interesse mehr zeigt, nur noch gute Ratschläge zu geben hat und dabei an mir vorbei in seine Zukunft schaut.
Das ist schmerzhaft. Es wird zu viel aus meinem Leben gegangen gerade, vielleicht ist das der Grund dafür, dass mir das Gehen keinen Spaß mehr macht. Ich möchte gerade lieber stillstehen, warten, atmen; ich kann die ganzen Eindrücke, die kurzen Beobachtungen, die man beim Gehen machen kann, die schnellen Gedanken darüber nicht mehr verarbeiten; es strengt mich furchtbar an.
Ich bin immer gut und gern gegangen, in einem vertrauten, selbstverständlichen Rhythmus, der einfach da war, den mein Körper ganz von selbst bestimmte, organisierte und managte. Meine Augen konnten schweifen, mein Kopf machte sich Gedanken – ich ging währenddessen sicher auf sicherem Boden und hatte Vergnügen dabei. Doch plötzlich ist Gehen anstrengend, mühsam, die anderen Menschen auf meinen Wegen erscheinen mir wie Hindernisse, wie Bedrohungen; ich muss ihnen ausweichen, muss reagieren, mich auf das Gehen konzentrieren anstatt aufs Denken und Sehen. Ich bin aus dem Takt.
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