berliner szenen: Wenn die Schlange schwingt
Es ist kalt und ungemütlich. Um neun soll der Einlass beginnen. Ich bin früh dran, weil ich heute unbedingt meinen Booster haben will, auch ohne Termin. Als ich um Viertel nach acht am Impfzentrum Tegel auftauche, sind schon weit über hundert Menschen vor dem Tor. Dick eingepackt stehen sie da, starren auf ihre Handys und schweigen eher missmutig vor sich hin. Zu allem Übel fängt es auch noch an zu nieseln.
Ich reihe mich ein in die Schlange. Jetzt ist Geduld gefragt. Mit meinen Nachbarn versuche ich Smalltalk, aber die vergraben sich lieber in ihren dicken Schals. Was nun? Nur ruhig rumstehen ist nichts für mich alten Mann mit schwachem Kreislauf. Also fange ich an, mich vorsichtig zu bewegen. Leicht auf die Zehenspitzen und wieder runter, von dem einen Fuß auf den andern treten, in die Knie gehen und wieder hoch. Alles dezent, ich will ja nicht auffallen. Bei dem Sauwetter tut mir das erstaunlich gut. Also werde ich mutiger, ziehe die Schultern hoch und lasse sie fallen, drehe mich leicht in den Hüften. Schwenke meine Arme hin und her. So vergehen die Minuten.
Als ich mich nach einer Weile umschaue, entdecke ich ein paar Meter weiter eine ältere Frau. Sie trippelt auf der Stelle und wippt auf ihren Füßen auf und ab. In ihrer Nähe sind nun auch ein paar junge Frauen in Bewegung geraten. Und hinter der Absperrung springt jetzt der Aufpasser hin und her, schlägt seine Arme um seinen Oberkörper.
Da verlieren auch andere ihre Scheu, allmählich kommt eine richtige Welle in Gang. Die Menschen drehen sich nach links, nach rechts, machen Scheinboxen, gehen tief in die Knie und wieder hoch, trippeln gegen die Kälte und werfen ihre Arme in die Luft. Ekstase wäre zu viel gesagt. Aber es hätte noch was draus werden können. Detlef Wittenberg
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